Trügerische Ruhe
beispielsweise eine Raumforderung, einen Tumor. Es muß einfach einen Grund dafür geben. Er ist schon der zweite Junge mit unkontrollierbarer Aggressivität, mit dem ich es zu tun habe.«
Alle drehten sich um, als Lincoln den Raum betrat. Die Tragödie hatte ihren Tribut von ihm gefordert; Claire konnte es an seinem Gesicht sehen, an den Ringen unter seinen Augen und seinem traurigen Blick. Faye Braxtons Tod war für ihn nur der Auslöser einer endlosen Reihe von Pressekonferenzen und Treffen mit Ermittlern der Staatspolizei gewesen. Er schloß die Tür und schien geradezu erleichtert, daß er endlich, wenn auch nur für kurze Zeit, einen stillen Rückzugsort gefunden hatte.
Er ging zum Fenster und betrachtete den Jungen, der auf dem Tisch lag. »Was haben Sie bis jetzt herausgefunden?«
»Wir haben eben die vorläufigen Ergebnisse des Drogen-Screenings aus Bangor erhalten. Sein Blut ist negativ in bezug auf Amphetamine, Phencyclidin und Kokain. Die üblichen Drogen, die mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Jetzt müssen wir weitere mögliche Ursachen für sein Verhalten ausschließen.« Sie warf einen Blick auf den Patienten. »Es ist genau wie bei Taylor Darnell. Und dieser Junge hat niemals Ritalin bekommen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich bin die Hausärztin. Ich habe alle Aufzeichnungen über Scotty aus Dr. Pomeroys Kartei.«
Sie standen beide am Fenster, die Schultern müde angelehnt, um Energie für die kommenden Stunden zu sparen. Ihr wurde bewußt, daß sie immer nur in solchen Situationen miteinander zu tun hatten – wenn sie beide ausgelaugt waren oder Angst hatten oder durch eine Krise abgelenkt waren. Wenn sie beide nicht gerade auf der Höhe waren. Sie hatten keinerlei Illusionen in bezug auf einander, weil sie zusammen schon einiges durchgemacht hatten. Und sie überraschte sich bei dem Gedanken, daß sie durch all das nur gelernt hatte, ihn noch mehr zu bewundern.
Der Techniker sagte: »Da kommen die letzten Aufnahmen.«
Claire und Lincoln rissen sich aus ihrer erschöpften Benommenheit und gingen hinüber zum Computerterminal. Sie setzte sich hin und sah zu, wie die Querschnitte des Gehirns auf dem Bildschirm erschienen. Lincoln stellte sich hinter ihr auf und stützte sich auf die Rückenlehne ihres Stuhls. Sie fühlte seinen warmen Atem in ihren Haaren.
»Also, was sehen Sie?« fragte Lincoln.
»Keine Verschiebung der Mittellinie. Keine Raumforderungen, keine Blutungen.«
»Woher wissen Sie, was Sie da genau sehen?«
»Je weißer die Darstellung, desto dichter ist das Gewebe. Knochen erscheint weiß, Luft schwarz. Wenn wir zu den unteren Schichten des Schädels kommen, werden Sie sehen, wie Teile des Keilbeins erscheinen, das an der Hirnbasis liegt. Worauf ich achte, ist die Symmetrie. Da die meisten Erkrankungen nur eine Seite des Gehirns betreffen, überprüfe ich es auf Abweichungen zwischen den Hälften.«
Ein neuer Schnitt erschien. Lincoln sagte: »Das Bild erscheint mir aber nicht symmetrisch.«
»Sie haben recht, das ist es auch nicht. Aber diese spezielle Asymmetrie macht mir keine Sorgen, weil sie nicht das Gehirn betrifft, sondern eine der Knochenhöhlen.«
»Was sehen Sie sich gerade an?« fragte der Techniker.
»Die rechte Kieferhöhle. Sehen Sie? Sie ist nicht ganz klar. Es scheint da irgendeine Trübung zu geben.«
»Vermutlich eine Schleimzyste«, meinte der Techniker. »Wir sehen so etwas manchmal bei Patienten mit chronischen Allergien.«
»Das würde jedenfalls nicht sein Verhalten erklären«, sagte Claire.
Das Telefon klingelte. Es war Anthony, der aus dem Labor anrief.
»Vielleicht möchten Sie mal rüberkommen und sich das ansehen, Dr. Elliot«, sagte er. »Es ist das Gaschromatogramm Ihres Patienten.«
»Hat sich in seinem Blut irgend etwas gefunden?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Erklären Sie mir diesen Test«, sagte Lincoln. »Was messen Sie hier eigentlich?«
Anthony gab dem kastenförmigen Gaschromatographen einen liebevollen Klaps und grinste wie ein stolzer Vater. Vom Eastern Maine Medical Center in Bangor ausgemustert, war das kostbare Gerät erst vor kurzem angeschafft worden, und Anthony beugte sich schützend darüber. »Dieser Apparat«, erklärte er, »löst Stoffgemische in ihre einzelnen Komponenten auf. Dazu macht er sich das bekannte Gleichgewicht zwischen der Flüssig- und der Gasphase eines jeden Moleküls zunutze. Sie erinnern sich noch an Ihren Chemieunterricht?«
»Das war nicht gerade mein Lieblingsfach«, gab Lincoln
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