Trügerische Ruhe
ihn fast vor sich sehen, wie er an seinem Schreibtisch saß und verächtlich die Augen verdrehte. Jetzt, da sie ihre Befürchtungen in Worte gefaßt hatte, erschienen sie ihr plötzlich unbedeutend. Vielleicht hatte sie ja gar keine Schritte gehört, sondern bloß diesen Fensterladen, der im Wind hin- und herschwang. Vielleicht war die Familie außer Haus. Die Polizei wird kommen und nichts finden, dachte sie, und morgen wird die ganze Stadt über die ängstliche Frau Doktor lachen. Ihr Ruf hatte diese Woche schon genug Schaden genommen.
»Lincoln ist irgendwo dort in der Nähe«, sagte Dolan schließlich. »Ich sage ihm, er soll mal einen Abstecher machen, falls er dazu kommt.«
Sie legte auf. Schon tat es ihr leid, daß sie angerufen hatte. Sie stieg wieder aus und sah zum Haus hinüber. Die Dämmerung hatte sich zur Dunkelheit verdichtet. Ich werde den Notruf zurücknehmen und mir die Blamage ersparen, dachte sie. Sie ging zurück ins Haus.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und blickte zum oberen Treppenabsatz hoch, doch von oben war kein Laut zu hören. Sie ergriff das Geländer. Es war Eiche, massiv und vertrauenerweckend. Sie stieg die Stufen empor, getrieben von Stolz und fest entschlossen, nicht zur Zielscheibe des Gespötts der Stadt zu werden.
Im Obergeschoß schaltete sie das Licht ein und sah einen engen Flur vor sich, dessen Wände schmutzig waren und übersät mit zahlreichen Abdrücken kleiner Hände. Sie steckte den Kopf durch die Tür des ersten Zimmers auf der rechten Seite.
Es war Kittys Schlafzimmer. Ballerinen tanzten auf den Vorhängen. Auf dem Bett lagen Mädchensachen verstreut: Plastikspangen, ein roter Pulli mit einem gestickten Schneeflockenmuster, ein Kinderrucksack in rosa und violett. Auf dem Boden lag Kittys geliebte Barbiepuppensammlung. Aber das hier waren nicht die verhätschelten Objekte der Liebe eines kleinen Mädchens. Diese Puppen waren brutal mißhandelt worden, ihre Kleider in Fetzen gerissen, Arme und Beine wie vor Entsetzen ausgestreckt. Ein abgerissener Puppenkopf starrte mit seinen himmelblauen Augen zu ihr hoch.
Wieder spürte sie den kalten Schauer im Rücken.
Sie trat in den Flur zurück, und ihr Blick wurde plötzlich von der Tür zum Nebenraum angezogen, in dem ebenfalls kein Licht brannte. Und doch schimmerte da etwas in der Dunkelheit, ein seltsamer fluoreszierender Schein, ähnlich dem grünen Leuchten einer Armbanduhr. Sie trat in das Zimmer und schaltete das Licht ein. Das grüne Leuchten verschwand. Sie befand sich in einem Jungenzimmer. Es war unaufgeräumt, Bücher und schmutzige Socken lagen auf Bett und Boden verstreut, und ein Abfalleimer quoll von Papierknäueln und Coladosen über. Es war das typische Chaos, das ein Dreizehnjähriger zu hinterlassen pflegte. Sie schaltete das Licht aus.
Und sah es wieder – das grüne Leuchten. Es kam vom Bett.
Sie starrte das Kopfkissen an, das mit einem hellen Schimmer überzogen war, und befühlte die Bettwäsche; sie war kühl, aber nicht feucht. Jetzt bemerkte sie auch die schwachen Streifen von Lumineszenz auf der Wand, direkt über dem Bett, und einen einzelnen Fleck von strahlendem Smaragdgrün auf der Bettdecke.
Poch, poch, poch. Ihr Blick schoß nach oben, und sie hörte ein Wimmern, das leise Rufen eines Kindes.
Der Dachboden. Die Kinder waren auf dem Dachboden.
Sie stolperte über einen Tennisschuh, als sie aus dem Zimmer des Jungen auf den Flur hinaustrat. Die Bodentreppe war steil und schmal; sie mußte sich an dem wackeligen Geländer festhalten, als sie hinaufstieg. Oben angekommen, stand sie in völliger Dunkelheit.
Sie machte einen Schritt nach vorne und streifte eine herabhängende Lichtschnur. Sie zog daran, und die nackte Glühbirne leuchtete auf. Ihr matter Schein erhellte nur einen kleinen Kreis des Dachbodens; im Halbdunkel der Peripherie konnte sie ein Durcheinander von alten Möbeln und Pappkartons ausmachen. Ein Kleiderständer mit ausladenden Haken wie ein Elchgeweih warf einen bedrohlich aussehenden Schatten auf den Boden.
Hinter einem der Pappkartons bewegte sich etwas.
Rasch stieß sie den Karton zur Seite. Dahinter, zusammengerollt auf einem Haufen alter Mäntel, lag die siebenjährige Kitty. Das Gesicht des Mädchens fühlte sich eisig an, aber sie lebte, und mit jedem Atemzug kam cm leises Stöhnen aus ihrer Kehle. Claire beugte sich hinab, um sie aufzuheben, und stellte fest, daß die Kleider des Mädchens klatschnaß waren. Erschrocken hielt sie ihre vor Feuchtigkeit
Weitere Kostenlose Bücher