Trügerische Ruhe
Gleichgewicht halten konnte. Wieder suchte er nach einer Vene. »Ich kann keine finden!«
»Nicht mal die Cubitalis?«
»Die ist schon futsch. Wir haben sie vorhin verloren, als wir versucht haben, den ersten Zugang zu legen.«
Sie warf einen Blick auf den Monitor. Wieder begannen die Extrasystolcn über den Bildschirm zu wandern. Sie waren noch Meilen von der Unfallstation entfernt, und der Herzrhythmus des Mädchens verschlechterte sich. Sie mußten jetzt unbedingt eine Infusion in Gang bekommen.
»Übernehmen Sie die Herzmassage«, sagte sie. »Ich lege einen Zugang in die Subclavia.«
In der drangvollen Enge tauschten sie die Positionen.
Claires Herz klopfte wild, als sie sich neben Kitty hinkauerte. Es war Jahre her, daß sie einem Kind eine Infusion in die Zentralvene gelegt hatte. Sie würde eine Nadel unter dem Schlüsselbein einführen und die Spitze in die große Vena subclavia lenken müssen, wobei immer die Gefahr bestand, daß sie die Lunge punktierte. Ihre Hände zitterten schon jetzt – als ob es nicht schon schwer genug gewesen wäre, sie in dem fahrenden Krankenwagen ruhig zu halten.
Das Mädchen steht unter Schock. Es stirbt – ich habe keine Wahl.
Sie öffnete den Instrumentenkasten, bestrich die Haut mit Betadine und zog sterile Handschuhe über. Dann holte sie stockend Luft. »Unterbrechen Sie die Kompressionen«, sagte sie. Sie setzte die Spritze unterhalb des Schlüsselbeins an und durchstach die Haut. Gleichmäßig drückend schob sie die Nadel immer tiefer, wobei sie vorsichtig mit der Spritze ansaugte.
Plötzlich begann dunkles Blut herauszufließen.
»Ich bin in der Vene.«
Der Alarm kreischte. »Schnell! Sie ist tachykard!« sagte der Sanitäter.
Lieber Gott, laß uns nicht über ein Schlagloch fahren. Nicht jetzt.
Sie hielt die Nadel vollkommen still, während sie die Spritze abnahm und den J-Draht durch die hohle Nadel einführte, bis sie in der Vene war. Jetzt war der Leitdraht in Position; der schwierigste Teil der Prozedur war überstanden. Sie brachte rasch die Kanüle an, zog den Draht heraus und schloß den IV-Schlauch an.
»Gut gemacht, Doc!«
»Lidocain läuft. Ringerlösung im Schuß.« Claire sah nach dem Monitor.
Immer noch ventrikuläre Tachykardie. Sie griff nach den Defibrillator-Paddles und war dabei, sie auf Kittys Brust zu legen, als der Sanitäter sagte: »Warten Sie.«
Sie sah nochmals auf den Bildschirm. Das Lidocain wirkte; die Tachykardie hatte aufgehört.
Das Rucken des abrupt bremsenden Krankenwagens machte sie darauf aufmerksam, daß sie am Ziel waren. Claire hielt sich fest, als der Wagen um die Kurve fuhr und in die Einfahrt der Notaufnahme zurücksetzte.
Die Tür öffnete sich, und sie sahen McNally mit seinem Team. Ein halbes Dutzend Hände griff nach der Trage und zog sie aus dem Wagen.
Es war nur ein chirurgisches Notteam, das im Schockraum auf sie wartete, aber es war das Beste, was McNally in so kurzer Zeit hatte auftreiben können: ein Anästhesist, zwei Schwestern von der Entbindungsstation und Dr. Byrne, ein Allgemeinchirurg.
Byrne legte sofort los. Mit einem Skalpell schlitzte er die Haut oberhalb von Kittys Rippen auf und schob mit fast brachialer Gewalt eine Thoraxdrainage hinein. Blut schoß aus dem Schlauch in den Glasbehälter hinein. Er warf einen Blick auf den rasch ansteigenden Pegel des Blutes und sagte: »Wir müssen den Brustkorb aufmachen.«
Sie hatten jetzt keine Zeit für das rituelle Händewaschen. Während McNally den Arm des Mädchens für eine weitere Infusion aufschnitt und eine Einheit Null-Negativ-Blut hineinströmte, schlüpfte Claire in einen OP-Kittel, zog ein paar Einweghandschuhe an und stellte sich gegenüber von Byrne auf. An seinem weißen Gesicht konnte sie erkennen, daß er Angst hatte. Er war kein Thoraxchirurg, und er wußte offensichtlich genau, daß er sich ziemlich weit hinauswagte. Aber Kitty lag im Sterben, und es gab niemanden sonst, an den man sich hätte wenden können.
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden ...«, murmelte er und warf die Knochensäge an.
Claire zuckte bei dem Aufheulen der Säge zurück und blinzelte durch den aufwirbelnden Knochenstaub in die sich erweiternde Öffnung in Kittys Brust. Sie sah nichts als Blut, das in dem grellen Licht wie Satin glänzte. Ein massiver Hämothorax. Byrne erweiterte die Öffnung mit Hilfe der Wundhaken, während Claire absaugte und das Innere der Brusthöhle vorübergehend sichtbar wurde.
»Wo kommt es her?« murmelte Byrne.
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