Trügerische Ruhe
ein ungeheures Verlangen danach, die Spielsachen dieses Jungen noch einmal anzufassen.
Er stieg die Stufen zum Speicher hinauf und zerrte die alte Wäschetruhe unter das Licht. Die nackte Glühbirne schwang über ihm hin und her, als er den Deckel der Truhe öffnete. Sie war voll von Schätzen. Er nahm sie der Reihe nach heraus und legte sie auf den staubigen Boden. Die Keksdose mit all seinen Matchboxautos. Die Modellhäuser. Den Lederbeutel mit den Murmeln. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte: das Damespiel.
Er legte das Brett auf den Boden und setzte die Spielsteine darauf; die roten auf seiner Seite, die schwarzen gegenüber. Mona kam die Speichertreppe hochgetappt und setzte sich neben ihn. Ihr Atem roch nach Hühnerfleisch. Einen Augenblick lang musterte sie das Brett mit katzenhafter Geringschätzung. Dann schlich sie lautlos heran und schnüffelte an einem der schwarzen Steine.
»Also das ist dein erster Zug?« sagte Warren. Es war kein besonders cleverer Zug, aber was konnte man schon von einer Katze erwarten? Er zog für sie mit dem schwarzen Stein, und sie schien zufrieden.
Draußen blies der Wind um das Haus und rüttelte an den Läden. Er konnte hören, wie die Zweige des Flieders gegen die Schindeln kratzten.
Warren zog mit einem der roten Steine und lächelte seine Gefährtin an.
»Du bist dran, Mona.«
Wie an jedem Morgen in der Woche schlich Isabel Morrison um halb sieben in das Schlafzimmer ihrer älteren Schwester und kroch zu Mary Rose unter die Decke. Dort zappelte sie herum wie ein fröhliches Würmchen und summte vor sich hin, während sie darauf wartete, daß Mary Rose aufwachte. Es gab dann immer ein großes Geseufze und Gestöhne, und Mary Rose wälzte sich von einer Seite auf die andere, so daß ihr langes braunes Haar Isabel im Gesicht kitzelte. Für Isabel war Mary Rose das schönste Mädchen auf der ganzen Welt. Sie sah aus wie die schlafende Prinzessin Aurora, die auf den Kuß des Prinzen wartete. Manchmal tat Isabel so, als sei sie der Märchenprinz, und obwohl sie wußte, daß Mädchen einander eigentlich nicht küssen sollen, gab sie ihrer Schwester dann einen Schmatz auf den Mund und verkündete: »So, jetzt mußt du aufwachen!«
Einmal war Mary Rose die ganze Zeit wach gewesen und war plötzlich wie ein kicherndes Monster hochgefahren. Sie hatte Isabel so erbarmungslos gekitzelt, daß die beiden Mädchen in einem Duett von ausgelassenem Kreischen aus dem Bett gefallen waren.
Wenn Mary Rose sie jetzt doch bloß kitzeln würde. Wenn sie bloß wieder sie selbst wäre. Isabel lehnte sich ganz dicht an Mary Rose und flüsterte ihr ins Ohr: »Willst du nicht aufwachen?«
Mary Rose zog sich die Decke über den Kopf. »Geh weg, du Nervensäge!«
»Mommy sagt, es ist Zeit für die Schule. Du mußt aufwachen.«
»Raus aus meinem Zimmer!«
»Aber es ist Zeit für –«
Mary Rose knurrte nur und versetzte Isabel einen wütenden Fußtritt. Isabel rutschte zur anderen Seite des Bettes, wo sie verwirrt und schweigend liegenblieb, ihr schmerzendes Schienbein rieb und zu verstehen versuchte, was gerade geschehen war. Mary Rose hatte sie noch nie getreten. Mary Rose wachte immer mit einem Lächeln auf, nannte sie Dizzy Izzy und flocht ihr das Haar, bevor sie zur Schule ging.
Sie beschloß, es noch einmal zu versuchen. Sie krabbelte auf allen vieren zum Kopfkissen ihrer Schwester, zog die Decke zurück und flüsterte Mary Rose ins Ohr: »Ich weiß, was Mommy und Daddy dir zu Weihnachten schenken. Willst du’s hören?«
Mary Rose riß die Augen auf. Sie drehte sich um und sah Isabel an.
Mit einem ängstlichen Wimmern kletterte Isabel aus dem Bett und starrte in ein Gesicht, das sie kaum wiedererkannte. Ein Gesicht, das ihr angst machte. »Mary Rose?« flüsterte sie.
Dann lief sie aus dem Zimmer.
Ihre Mutter war unten in der Küche, rührte in einem Topf mit Haferbrei und versuchte, trotz des Gekreischs von Rocky, dem Papagei, der Stimme im Radio zuzuhören. Als Isabel in die Küche gerannt kam, drehte ihre Mutter sich um und sagte: »Es ist sieben Uhr. Steht deine Schwester denn nicht auf?«
»Mommy«, heulte Isabel verzweifelt, »das ist nicht Mary Rose!«
Noah Elliot vollführte einen Kick-Flip – er ließ sein Skateboard vom Bordstein in die Luft schnellen und legte eine saubere Landung auf dem Asphalt hin. Ja! Voll auf den Punkt! Seine weiten Klamotten flatterten im Wind, als er mit dem Board bis zum Lehrerparkplatz fuhr, den Randstein mit einem Ollie überwand
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