Trügerisches Bild: Ein Auftrag für Spenser
Großteil jedenfalls nicht beschäftigt. Um sieben kam eine übergewichtige Frau in einem knöchellangen Kleid herein, stellte sich an das Pult und begrüßte uns zum Abend der Poesie. Sie verkündete, dass es am Ende der Veranstaltung einen Büchertisch geben würde, an dem die heute Abend gelesenen Gedichte für 5 Dollar käuflich zu erwerben wären.
Dann kam ein Mann heraus und las eine detaillierte Beschreibung seiner diversen homosexuellen Handlungen. In seinem Reimschema reimte sich „Vorhaut“ mit „Urlaut“. Und „Münder“ mit „Sünder“.
Als nächstes las eine dürre Frau, die ihre Haare in einem festen Knoten trug und über Masturbation schrieb, dann rezitierte ein Mann mit einem sehr langen geflochtenen Zopf irgendetwas, bei dem ich nicht herausbekam, worum es ging. Rosalind Wellington kam leider erst gegen Ende des Programms, und wer weiß, ob ich nicht schon davor gegangen wäre, wenn Susan mich nicht für meine innere Stärke bewundert hätte. Also hielt ich durch. Rosalind erschien ganz in Schwarz, inklusive Hut mit Schleier.
„Wie wenig blieb“, intonierte sie. „Eine Ode an meinen verstorbenen Mann.“
Ohne den Blick von den Blättern auf dem Pult zu heben, las sie mit einer Monotonie, die sie wohl für dramatisch hielt.
Mein Mann trat laut in die Ewigkeit.
Für Streit oder Klärung blieb keine Zeit.
Auch nicht für das Erbe, das doch versprochen war. Ein seltsames Erbe.
Zwei gemalte Damen,
die eine wahr wie Sternenlicht,
die andere ein Betrug.
Die Sternendame verborgen,
die Betrügerin für alle zu sehen.
Wie ich, die aufbrach am Morgen,
um schutzlos hier zu stehen.
Vielleicht bin ich es, die ihm eine Stimme gibt, ihm und seiner ewigen Angst.
Vielleicht wird es Zeit, es zu wagen
und einfach nur zu sein.
Ich glaube, er hat mich nie geliebt.
Übrig bleibt nur Müll, nur Schein.
Sie ließ abrupt den Kopf nach vorn fallen und blieb einen Moment lang so stehen, um das Ende ihrer Ode anzudeuten, dann sah sie auf und begann mit dem zweiten Gedicht. Danach war der Abend endlich zu Ende. Mir fiel eine Zeile von Swinburne ein: „Auch der müdeste Fluss findet einst seinen Weg zum Meer.“ Ich stand auf und kaufte eine Ausgabe der Gedichte, die in grauen Karton gebunden und anscheinend am heimischen Drucker entstanden war.
Zu Hause machte ich mir einen großen Drink, setzte mich damit an den Küchentresen und sah mir ihr erstes Gedicht noch mal an.
Zwei gemalte Damen.
Wenn ich sie darauf ansprach, drohte mir eine volle Breitseite Studentengelaber über Bedeutung und Schönheit. Ich fragte mich, was sie wohl einer Anklägerin von Middlesex County antworten würde.
57
Wir versammelten uns in Kate Quaggliosis Büro. Rosalind, ich, Healy und, als interessierter Beobachter, Belson.
Rosalind hängte sich sofort an Kate ran, die einzige andere Frau im Raum. Was Kate im Privatleben auch für ein Geschlecht haben mochte, meiner Einschätzung nach war sie hier drin keine Frau, sondern die personifizierte Staatsanwaltschaft.
„Bei mir zu Hause ist eingebrochen worden“, sagte Rosalind.
„Haben Sie das der Polizei von Walford gemeldet?“, fragte Kate.
„Ja.“
„Ist etwas gestohlen worden?“
„Nein, aber es gibt mir ein schreckliches Gefühl der Schutzlosigkeit.“
„Wer macht denn so was?“, sagte Healy. Ich sah ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos.
„Ich habe kürzlich meinen Mann verloren“, sagte Rosalind zu Kate. „Ich bin immer noch sehr labil.“
Kate nickte und hielt eine Kopie des Gedichtes mit den gemalten Damen hoch. „Verlassen Sie sich da mal ganz auf die Polizei von Walford. Könnten Sie mir erklären, was dieses Gedicht bedeutet, besonders in Hinsicht auf die beiden gemalten Damen?“
„Ich erkläre meine Gedichte nicht. Ein Gedicht soll nicht bedeuten, sondern einfach nur sein.“
„Das ist sicher wahr – überall, wo in diesem großartigen Land Englische Literatur gelehrt wird. Es galt sicher auch für Mr. MacLeish, als er das schrieb. Oder so etwas Ähnliches. Aber wir ermitteln hier in einem Mordfall, und auf diesem Gebiet gilt es nicht.“
Rosalind starrte sie an, als hätte sie Gotteslästerung begangen. „Oder so etwas Ähnliches?“
„Wenn ich es aus meinem College-Seminar über moderne Dichtung noch richtig in Erinnerung habe, ging es so: ‚Ein Gedicht soll nicht bedeuten, sondern sein.‘“
„Oh nein“, sagte Rosalind. „Ich bin mir sicher, Archie hat die Formulierung ‚einfach nur‘ verwendet.“
„Meinetwegen. Also
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