Trügerisches Spiel (German Edition)
nächsten öffentlichen Telefon lenkte. Dort stieg er aus, während Jocelyn im Wagen blieb. Rasch warf er Geld ein und wählte die Privatnummer des Captains. Zwar war Morris vermutlich noch nicht da, aber Jay wusste niemand anderen, dem er vertrauen konnte. Morris war bereits bei der Polizeiakademie sein Ausbilder gewesen und er war sich beinahe zu hundert Prozent sicher, dass der Captain nichts mit den Verbrechern zu tun hatte. Zwar würde er ihn lieber aus der Sache heraushalten, aber da niemand aus seiner Familie in der Nähe war, musste er das geringe Risiko eingehen. Jay hielt den Atem an, als das Freizeichen ertönte.
»Delia Morris hier.«
»Mrs. Morris, hier ist Detective Hunter.«
»Oh, das ist aber schön, von Ihnen zu hören! Wie geht es Ihnen?«
Jay schnitt eine Grimasse. Er mochte die Frau des Captains sehr gerne, aber im Moment hatte er keine Zeit für Smalltalk. »Sehr gut, danke. Ich hoffe, Ihnen auch. Ist Ihr Mann zufällig schon da? Ich muss ihn dringend sprechen.«
»Nein, leider noch nicht. Er müsste aber in einer halben Stunde da sein. Vielleicht versuchen Sie es dann noch einmal?«
Verdammt! »Dann ist es leider zu spät. Könnten Sie ihm bitte etwas ausrichten?«
»Aber natürlich.«
»Bitte sagen Sie es ihm persönlich, nicht über ein Telefon. Ich bin unterwegs zu einem Haus, in dem sich eventuell eine Geisel befindet.« Er ignorierte ihr erschrockenes Einatmen. »Ich kann nicht die Polizei verständigen, weil wir vermutlich ein Leck haben. Geben Sie ihm bitte die Adresse, die ich Ihnen gleich nenne. Wenn er eine Möglichkeit sieht, soll er bitte Verstärkung schicken, aber so, dass es nicht nach außen sickert. Ach ja, und er darf Detective Mahoney kein Wort davon sagen.«
»Ihrem Partner? Aber wieso …?«
»Bitte, Mrs. Morris.« Er nannte ihr die Adresse, bedankte sich noch einmal und legte auf.
25
Während Jay den Jeep durch den Verkehr zu der Adresse im Hafenviertel lenkte, starrte Jocelyn blicklos auf den zerknüllten Zettel in ihrer Hand. Neun Monate lang hatte sie jeden Kontakt zu Kevin gemieden, damit er nicht auch ins Visier der Verbrecher geriet, und jetzt war es doch geschehen. Hätte sie geahnt, dass so etwas passieren würde, wäre sie nie hierher zurückgekommen. Warum hatte sie das nur getan? Ein Druck lastete auf ihrer Brust, und die Furcht bohrte sich tief in ihr Herz. Es durfte Kevin nichts geschehen sein! Doch auch wenn sie es sich noch so oft sagte, ihre bisherige Erfahrung mit den Verbrechern zeigte, dass sie völlig skrupellos waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Bruder noch lebte, war äußerst gering. Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch Jocelyn drängte sie mühsam zurück. Wenn sie Kevin noch irgendwie retten wollte, musste sie sich darauf konzentrieren und durfte nicht ihren Gefühlen nachgeben.
Jays Hand legte sich auf ihren Oberschenkel und drückte ihn beruhigend. Seit sie die Nachricht gefunden hatten, wirkte er in sich gekehrt. Seine ernste Miene sagte ihr ohne Worte, dass auch er die Möglichkeit, Kevin lebend dort herauszuholen, für verschwindend gering hielt. Jocelyn schloss die Augen und tat das, was sie zuletzt in ihrer Kindheit getan hatte, wenn sie wieder einmal von ihren Pflegeeltern ignoriert und mit ihren Problemen alleingelassen worden war: Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Bitte, bitte, verschone Kevin. Er hat mit all dem nichts zu tun. Jocelyns Lider hoben sich, und sie sah, dass sie beinahe bei ihrem Ziel angekommen waren.
Doch Jay bog kurz vorher ab und fuhr in eine andere Richtung weiter. Jocelyn blickte sich um. »Da vorne war es.«
»Ich weiß.« Er fuhr in eine kleine Seitenstraße. Nach einigen Metern bog er wieder ab in eine Straße, die zu ihrem Ziel führte. Zwischen zahlreichen anderen Wagen fand er einen Parkplatz und schaltete den Motor aus. Jay drehte sich im Sitz zu ihr um und legte seine Hand an ihre Wange. »Ich will nicht so viel Aufmerksamkeit auf uns lenken. Vielleicht gelingt es uns, das Gebäude zu betreten, ohne dass uns jemand bemerkt.« Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er nicht wirklich daran glaubte.
Wenn sie jetzt dort hineingingen, ohne Rückendeckung, waren sie so gut wie tot. Aber wenn sie noch länger warteten, musste Kevin vielleicht unaussprechliche Qualen erleiden oder wurde ihretwegen umgebracht. Das konnte sie nicht verantworten. Ihr Blick glitt über Jays Gesicht, das energische Kinn, den schön geschwungenen Mund, die gerade Nase und die dunklen Augen. Sie
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