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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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schreiben?«
    »Wir nehmen Ihren Brief entgegen. Beeilen Sie sich nicht. Es wird Wochen dauern, bis einer unserer Vertreter nach Nordrussland durchkommt. Wenn überhaupt. Sie sind verwirrt. Glücklich, aber verwirrt. Das verstehe ich, das erlebe ich jeden Tag. Lassen Sie die gute Nachricht auf sich wirken. Geben Sie sich selbst ein wenig Zeit. Dann erst schreiben Sie.«
    »Immerhin ist er gefunden worden.«
    »Wen wir einmal registriert haben, den verlieren wir nicht mehr.«
    Da endlich schafft es Stave, sich aus dem Stuhl hochzustemmen. »Vielen Dank«, murmelt er. »Auch dafür, dass Sie persönlich vorbeigekommen sind.«
    »Sie waren ja oft genug bei uns«, erwidert Brems und schüttelt ihm zum Abschied die Hand.
    Danach starrt Stave wieder aus dem Fenster. Irgendwann schleicht sich tintenschwarze Nacht heran. Im Vorzimmer knirscht der Stuhl über den Linoleumboden, als Erna Berg ihn an ihren Schreibtisch rückt und geht. In einem fast erkalteten Heizkörper gurgelt Luft. Schritte auf dem Flur, dann die Stille einer verlassenen Etage.
    Ich muss mir eine Karte von Russland besorgen, denkt Stave endlich. Nachsehen, wo Workuta liegt.

Ein Brief
Dienstag, 18. März 1947
    Stave wacht auf und spürt, dass sich etwas verändert hat. Einen Augenblick packt ihn die Angst, weil er glaubt, jemand sei im Zimmer. Er fährt hoch, blickt sich um. Niemand. Dann erst merkt er, was anders geworden ist.
    Draußen singt ein Vogel. Kein Eispanzer an den Scheiben, nur feuchte Flecken auf den Fensterbrettern von den herabgetauten Frostblumen. Kein dampfender Atem mehr, keine schmerzenden Hände, kein kalter Schauder, wenn die bloßen Füße den Boden berühren.
    Vorsichtig steht Stave auf, er traut der Milde nicht, tritt ans Fenster, blinzelt hinaus. Sonnenlicht. Die Mauer gegenüber leuchtet gelb und warm. Drei, vier Menschen auf der Straße, die langsam gehen, misstrauisch, noch in Schal und Mantel. Einer erst hat seine Mütze abgenommen. Wann habe ich das zuletzt gesehen, denkt Stave. Ein unbedecktes Haupt im Freien.
    Er verzichtet auf das Frühstück, spritzt sich Wasser ins Gesicht, verharrt vor der Wohnungstür. Mantel mitnehmen oder nicht? Nicht übermütig werden, sagt er sich, dann greift er nach dem schweren Stoff. Er packt die Pistole, stopft sie sich unter das Jackett. Nimmt den Dienstausweis. Doch die Taschenlampe lässt er auf dem Brett über den Garderobenhaken: Wer braucht an so einem hellen Tag noch eine Lampe?
    Auf der Straße fühlt er sich, als wäre er innerlich geteilt, mit der Grenze knapp über seinen Knien: Der Boden ist noch frosthart, Kälte kriecht hoch. Auf Kopf und Körper jedoch scheint die Sonne, die Luft ist warm wie Seide. Stave atmet tief ein, hofft, das Versprechen des Frühlings zu schmecken, Blüten, Blätter, Gras. Doch dafür ist es noch zu früh, die alte Mischung aus Steinstaub, Ruß und Fäulnis steigt ihm in die Nase, intensiver als zuvor. Er öffnet den Mantel, geht langsam, genießt jeden Schritt. An einer Straßenecke stehen Dutzende in einer Schlange, Blecheimer, Karaffen, alte Kanister in Händen. Geduldig warten sie, bis sie an der Reihe sind, ihre Behälter aus einer handbetriebenen Wasserpumpe zu füllen – Pechvögel, deren Leitungen in den Wohnungen während der letzten Wochen geplatzt sind und die sich nun im Freien versorgen müssen. Stave schreitet die Schlange ab, bis gestern eine Wand aus schweigenden, vermummten Gestalten. Heute hat jeder ein Gesicht und redet. Lachen weht dem Oberinspektor noch nach, als er die Wartenden schon lange passiert hat. Ein älterer Herr, der ihm auf dem Bürgersteig entgegenkommt, lüpft zum Gruß den Hut. Als er eine Frau anblickt, errötet die und lächelt schüchtern. Zwei Schuljungen schießen einen Ziegelsteinbrocken mit zerlumpten Schuhen bis auf ein Trümmergrundstück. Überlebende, denkt Stave, wir sind alle Überlebende.
    Ob es auch in Sibirien taut? Oder bleibt es dort immer kalt? Stave hat Workuta gefunden, mit der Hilfe von Brems, denn einen Ort dieses Namens konnte er auf keiner Karte der Sowjetunion entdecken. Ein Punkt am nördlichen Ende des Ural-Gebirges. So weit weg von allem, von jeder Stadt, jeder Eisenbahnlinie, die auf den Atlanten verzeichnet ist. Der Oberinspektor fragt sich, wie sein Sohn dorthin gelangt sein mag, von Berlin bis nach Workuta. Er hat ihm geschrieben, einen Brief, an dem er eine lange, kalte Nacht bei Kerzenschein gesessen hat. Die Worte sind ihm schwergefallen. »Ein Dichter sind Sie nicht«, haben

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