Trümmermörder
ein Geheimnis vor Ihnen, Herr Lieutenant. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich es enthüllen werde. Zu gegebener Zeit.«
MacDonald nickt und steht auf. »Ich nehme es sportlich. Geben Sie mir nur beizeiten Bescheid.«
Als der Lieutenant schon die Hand auf den Griff der Tür zum Vorzimmer legt, räuspert sich Stave noch einmal. »Versprechen Sie mir, mich nicht zum Paten Ihres Kindes zu machen«, sagt er. »Auch wenn Sie es in meinem Büro gezeugt haben.«
»Da haben Sie sich verrechnet«, antwortet MacDonald, tippt zum Gruß an die Mütze und verschwindet.
Stave starrt lange aus dem Fenster, nachdem der Lieutenant ihn verlassen hat. Er ist erleichtert, dass die Akten wieder da sind. Wie ich an diesen Formalien hänge, denkt er. Margarethe hätte gelacht, hätte mich aber auch beruhigt: ist nicht so schlimm.
Der Nebel lichtet sich. Er glaubt nun, dass er MacDonald trauen kann und Erna Berg auch, selbst wenn ihn die Vorstellung schockiert, dass sich an diesem Schreibtisch, auf diesem Schreibtisch, eine verheiratete Frau einem Offizier der Besatzungsmacht hingibt.
Das Verschwinden der Mordakten hat sich geklärt. Hellinger ist aus den Ermittlungen verschwunden. Kein Verdächtiger und, Gott sei Dank, kein weiteres Mordopfer.
Stave hat genügend Aussagen und Dokumente zusammengetragen, um Maschke vor Gericht zu bringen, als ehemaligen SS-Mann und Mörder von Oradour. Er fragt sich, ob es klüger ist, Maschke sofort zu verhaften und dann auch in Sachen Trümmermörder weiter zu ermitteln. Oder soll man den Kollegen noch im Unklaren lassen, soll lauern, ob er sich unbedacht verrät? Ich werde mich mit Ehrlich beraten müssen, denkt er. Der Staatsanwalt muss ahnen, dass Maschke eine Nazi-Vergangenheit hat. Warum sonst hätte er neulich abends in dessen Büro aufkreuzen sollen? Er wollte herumschnüffeln. Aber offenbar weiß Ehrlich nicht, dass Maschke in Oradour war. Der Nazi-Jäger wird Stave dankbar sein, wenn die Beweise präsentiert werden. Ein neuer Prozess, vielleicht im Curiohaus.
Seine Gedanken werden von einem Klopfen unterbrochen. Erna Berg öffnet die Vorzimmertür, blickt herein. »Ein Besucher für Sie.«
Andreas Brems vom Suchdienst.
Stave will, wie es die Höflichkeit fordert, aufstehen, doch seine Beine sind plötzlich weich wie Fahrradschläuche. Er will etwas sagen, bringt keinen Ton hervor.
Der Sachbearbeiter, routiniert darin, schicksalsschwere Nachrichten zu überbringen, lächelt höflich, zieht den Besucherstuhl heran, setzt sich, faltet ein Papier auseinander, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Dann zeigt er darauf: eine hektographierte Liste, Namen, Namen, Namen.
»Wir haben Ihren Sohn gefunden«, sagt er und setzt schnell hinzu: »Lebend.«
Stave krallt sich in die Schreibtischplatte. Die Gedanken kreisen. Karl. Ein Siebzehnjähriger in viel zu großer Wehrmachtsuniform, Zorn und Verachtung im Gesicht, als er sich vom Vater verabschiedet. Er ist doch noch ein Junge. Erleichterung. Warmes Glücksgefühl im Bauch. Stave zwingt sich, Brems förmlich zu danken, schüttelt ihm über die Schreibtischplatte hinweg die Hand, beugt sich dann über die Liste. Er nimmt sie in die Hand, jetzt gleichgültig gegenüber dem Zittern, das die Blätter rascheln lässt. Das einzige Band zu seinem Sohn.
»Stave, Karl.«
Und dahinter noch ein Wort. Stave stutzt, liest es noch einmal, versteht es nicht. »Was bedeutet das? Workuta?«
»Der momentane Aufenthaltsort Ihres Sohnes.« Brems räuspert sich. »Ein Gefangenenlager. In Sibirien.«
»Sibirien.«
Stave schließt die Augen. Von »sibirischen Temperaturen« reden die Menschen seit Monaten in Hamburg. Und er hat ja die Toten gesehen, festgefroren am Boden. Hat von anderen Opfern gehört, die kein Mörder sich holte, sondern die Kälte. Wenn es in Hamburg so frostig ist – wie mag es dann dort sein?
»Was kann ich tun?«, hört er sich selbst fragen. Seine Stimme klingt hoffnungsvoll und matt zugleich.
»Nichts. Zurzeit wenigstens. Das Rote Kreuz hat diese Liste bekommen. Vielleicht wird irgendwann ein Vertreter in die sibirischen Lager gelassen, um mit den Gefangenen zu reden oder ihnen Post zu bringen. Sicher ist das nicht. Wir bemühen uns selbstverständlich um jede Verbesserung seiner Lage.«
»Wann wird er entlassen?«
»Fragen Sie Genosse Stalin. Niemand weiß es. Als noch Züge fuhren, kamen oft Gefangene von dort zurück. Momentan ist es zu kalt dafür. Aber irgendwann wird dieser Winter ja vorübergehen.«
»Kann ich ihm wenigstens
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