Trümmermörder
geplant hat. Und der im geeigneten Augenblick zuschlug.«
»Indizien?«
»Außer den brutalen Tatumständen: keine.« Stave hält es für sinnlos, dem Staatsanwalt etwas in dieser Hinsicht vorzumachen. »Wir haben es bei der Arbeit nicht oft mit derartigen Geistesgestörten zu tun. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet. Wenn solche Menschen, wie ich einmal gelesen habe, irgendwelche Muster bei ihren Untaten verfolgen, dann kann ich die noch nicht erkennen. Dazu wäre es zu früh.«
Beide schweigen eine lange Zeit. Unnötig auszusprechen, was Stave und Ehrlich denken: dass dieser Toten weitere folgen könnten.
»Was haben Sie nun vor?«, fragt der Staatsanwalt schließlich und schenkt Tee nach.
Der Oberinspektor nickt dankbar und wärmt seine Hände an der Tasse, saugt den Duft ein und lächelt. Dann holt er eine Papierrolle aus seiner Manteltasche, die noch nach Druckerfarbe riecht.
»Das erste Exemplar des Fahndungsplakats«, erklärt er und reicht es dem Staatsanwalt über den Tisch.
»1000 RM Belohnung!«, liest Ehrlich laut vor. »Raubmord in der Baustraße in Hamburg – Am Montag, den 20. Januar 1947, wurde auf dem Trümmergrundstück, Hamburg, Baustraße 13, eine bisher noch unbekannte weibliche Person tot aufgefunden. Es liegt Raubmord vor. – Na, ein Dichter sind Sie nicht, Herr Oberinspektor.« Ehrlich betrachtet das Foto der Ermordeten, liest die Personenbeschreibung.
»Gerade sagen Sie mir, dass Sie nicht wirklich an Raubmord glauben«, sagt er schließlich. »Und hier lese ich das schwarz auf weiß, wie eine Tatsache.«
»Ich will niemanden beunruhigen«, rechtfertigt sich Stave. »Außerdem hilft uns die Erwähnung eines möglicherweise geistesgestörten Täters nicht weiter, fürchte ich.«
»Erklären Sie mir das.«
»Wenn wir irgendwo einen Irren suchen, dann melden sich bei uns Hunderte Zeugen, die Nachbarn, Kollegen oder alle möglichen Leute anzeigen, die ihnen einmal in die Quere gekommen sind. Das bindet Arbeitskraft und bringt nur Ärger.«
»Vermutlich haben Sie recht.«
»Das Plakat wird bald überall in der Stadt hängen. Wir warten ab, ob sich nicht jemand meldet, der die Tote kennt.«
»Und was machen Sie bis dahin?«
»Zum Friedhof gehen«, erwidert Stave. »Heute Nachmittag ist die Beerdigung der Unbekannten auf dem Öjendorfer Friedhof. Ich bleibe im Hintergrund – mal sehen, ob ein Trauergast auftaucht.«
Nach dem Besuch bei Ehrlich kehrt Stave nicht direkt in sein Büro zurück. Ziellos wandert er durch die Stadt. Er muss seine Gedanken ordnen, und das gelingt ihm am besten, wenn er in Bewegung ist. Noch einmal geht er alle Details des Falles durch: Was weiß er über das Opfer? Fast nichts. Über den Täter? Noch weniger. Was bleibt ihm anderes übrig als zu warten? Darauf, dass sich ein Zeuge meldet, irgendjemand, der die Unbekannte auf dem Fahndungsplakat identifizieren kann. Und falls nicht? Hat er irgendetwas übersehen? Aber was?
Der Oberinspektor fühlt sich bedrängt – und hasst dieses Gefühl. Von Cuddel Breuer. Von Ehrlich. Stave jedoch arbeitet am liebsten allein. Spezialisten holt er sich gerne hinzu, wenn sie notwendig sind: Fotografen, Spurensicherer, Pathologen. Aber was soll er mit Maschke anfangen? Und erst MacDonald. Kein Krimsche, kein Profi. Andererseits mag der Blick des Außenseiters hilfreich sein; dem Briten mögen Dinge auffallen, die er, Stave, vielleicht übersieht. Klug genug scheint er zu sein – und einflussreich.
Stave taucht aus seinen Gedanken auf. Er findet sich am Eppendorfer Baum wieder, ein gutes Stück entfernt vom Karl-Muck-Platz. In einem halb zerstörten Haus hat sich ein Imbiss eingenistet: Die Obergeschosse eines alten, mehrstöckigen Hauses hat eine Bombe aufgerissen, sodass das Gebäude dasteht wie eine halb ausgeweidete Leiche. Nur das Erdgeschoss scheint intakt geblieben zu sein, über der Tür wirbt ein ungeschickt fabriziertes Holzschild für »frische Gerichte«.
Stave betritt den hellen, leider ungeheizten Raum und setzt sich an einen Tisch. Er ignoriert das Pochen aus seinem linken Fußgelenk. Gewohnheitsmäßig schaut er sich um: Mittagszeit, ein paar Arbeiter und Angestellte, eine Mutter mit zwei Kindern, allein in der Ecke eine dürre Gestalt mit Russlandgesicht im umgefärbten Wehrmachtsmantel, dessen linker Ärmel vorne lose festgenäht ist.
Stave bestellt das Tagesgericht für eine Reichsmark: ein saurer Hering, zwei dünne Gurkenscheiben, ein Löffel Gemüsesalat undefinierbarer Farbe und
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