Trümmermörder
Gegenstand, überall nur Aktenordner und Zettel, an einem kleinen Nebentisch eine schwarze, wuchtige Schreibmaschine. Stave starrt verstohlen auf die kurzen, breiten, mit hellem Haarflaum überzogenen Finger Ehrlichs: kein Ehering.
Stave selbst trägt auch keinen mehr. Er hat ihn im Sommer 1943 nachts im Hafen in die Elbe geschleudert. Eine Zeit lang hatte er an der Spitze des Piers gestanden. Das Wasser war verführerisch nah und so dunkel … Aber dann war er doch umgekehrt und nach Hause gegangen – wenn man die Trümmer denn so nennen will. Stave schließt kurz die Augen.
»Ich bedaure außerordentlich, dass ich Sie habe warten lassen müssen«, sagt Ehrlich schließlich und klappt den Aktendeckel zu. »Tee?« Eine kultivierte, leise Stimme.
Stave lächelt zaghaft. »Sehr gerne.« Dann reißt er die Augen auf, als eine Sekretärin mit einer Kanne hereinkommt, aus der es dampft und duftet. Echter Tee, stellt Stave fest, Earl Grey, nicht aufgegossene Brennnesseln.
Ehrlich schenkt ein. »Früher war ich Kaffeetrinker«, gesteht er. »Tee habe ich mir erst in England angewöhnt. Er ist auch deutlich leichter zu beschaffen – vor allem, wenn man in der britischen Zone lebt.«
»Sind Sie deshalb gerade nach Hamburg zurückgekehrt, dem Hafen der britischen Zone?«, fragt Stave.
»Ah, ich sehe, Lieutenant MacDonald hat Sie bereits informiert«, erwidert Ehrlich und lächelt amüsiert. Der Blick seiner eulenhaft vergrößerten Augen ist jedoch aufmerksam, ein wenig lauernd.
Dummkopf, ärgert sich Stave über sich selbst. Typische Kripo-Marotte: gleich im Gespräch überfallen, überraschen, verunsichern. Nicht der richtige Weg bei diesem Staatsanwalt.
»Danke, dass Sie unserem Antrag auf Leichenöffnung so schnell zugestimmt haben«, sagt er, um das Thema zu wechseln.
Ehrlich entspannt sich. »Reden wir über den Fall. Ich bin ganz Ohr.«
Stave berichtet alles, was sie bis jetzt erfahren haben sowie über den bisherigen Ermittlungsstand und alle Theorien zu Opfer und Täter.
»Das wird schwierig«, sagt Ehrlich nachdenklich, als der Oberinspektor geendet hat.
»Wir müssen unbedingt herausfinden, wer die Tote ist. Sonst werden wir vielleicht nie weiterkommen«, gibt Stave zu.
»Dann glauben Sie also selbst nicht einmal an die These vom Raubmord, obwohl Sie Maschke losgeschickt haben, um Akten aufzutreiben, die, wie Sie und ich wissen, in gewissen Öfen verbrannt worden sind.«
Ist der fix, denkt Stave erschrocken. Bei einem Raubmord führt die Identität des Opfers nicht unbedingt zum Täter, denn oft überfallen Kriminelle ihnen unbekannte Personen. Ehrlich muss daraus geschlossen haben, dass Täter und Opfer sich gekannt haben und Stave einen anderen Verdacht hat. »Ich bemühe mich um Gründlichkeit«, erwidert er.
»Eine sehr deutsche Tugend«, antwortet der Staatsanwalt mit feiner Ironie.
»Eine kriminalistische Tugend überall auf der Welt.« Stave ist das Katz-und-Maus-Spiel plötzlich leid. »Aber Sie haben recht«, fährt er in versöhnlichem Ton fort und entspannt sich. Vielleicht fasst er auf einmal Vertrauen zu Ehrlich, vielleicht ist es auch einfach der heiße Tee: Er beschließt, ganz gegen seine Gewohnheit, den Staatsanwälten stets nur harte Fakten und plausible Vermutungen zu präsentieren, diesmal auch einen erst halb begründeten Verdacht anzusprechen. »Das Verbrechen ist nicht nur brutal«, erklärt Stave zögernd, »sondern auch effizient: Gewalt, die direkt zum Tod führt. Danach eine Plünderung der Leiche, die äußerst gründlich war.«
»Kaltblütig«, wirft Ehrlich ein.
»Ja. Sorgfältig geplant, perfekt ausgeführt. Jemand, der dazu fähig ist, ist entweder moralisch vollkommen abgestumpft – oder geisteskrank bei gleichzeitig klarstem logischem Bewusstsein.«
»Nach diesem Krieg und den zwölf Jahren dieses Regimes laufen in Deutschland genug Leute frei herum, denen eine Tote mehr oder weniger auf ihrem offenbar unterentwickelten Gewissen nichts mehr ausmacht. Psychopathen sind ganz sicher darunter. Aber die meisten würden wir wohl als Biedermänner bezeichnen.«
»Und doch wird in Hamburg nicht jeden Tag eine junge Frau mit einem Draht erdrosselt, entkleidet und in den Trümmern abgelegt.«
Der Staatsanwalt nickt. »Touché. Also: Was vermuten Sie wirklich, Herr Oberinspektor?«
»Ich tippe auf einen Geistesgestörten. Jemanden, der das Opfer kannte oder es zumindest eine Zeit lang unauffällig beobachtet hat. Der womöglich über Wochen oder Monate die Tat
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