Trümmermörder
Lärm des Generators.
Sie warten, bis der Fotograf die ersten Bilder des Opfers gemacht hat. Dann bewegt Czrisini behutsam den Körper des Unbekannten.
Er zieht die Augenlider auseinander. »Blaue Augen.« Mit beiden Händen drückt er den Unterkiefer des Toten nach unten. »Keine Zähne«, verkündet er. »Das Opfer trug vermutlich eine Prothese.«
Er untersucht den Mann, arbeitet sich langsam und systematisch vom Kopf an hinunter. »Pfenniggroße Warze an der linken Hüfte.« Dann deutet er auf den Unterleib. »Hodenbruch, Hodensack stark erweitert. Wenn man das hat, dann trägt man ein Suspensorium. Trotzdem wäre man beim Gehen behindert.«
Stave deutet stumm auf den Rand des Bombenkraters. Dort liegt ein schwarzbraun polierter Spazierstock aus Bambus. Der Griff ist geschnitzt, eine zarte Schneedecke bedeckt die Gehhilfe – ungefähr so dünn wie die, die auch den Körper des Toten einhüllt.
»Das könnte der Stock des Toten sein«, murmelt er.
Im flackernden Licht blitzt neben dem Körper noch ein Metallknopf auf. Als sie den Toten endlich auf eine Bahre legen lassen, entdecken sie unter seinem Leib einen abgerissenen Lederriemen, vielleicht von einem Wanderrucksack.
Und dann sieht Stave etwas Kleines, Glänzendes im Schutt, dort, wo eben noch die Schultern des Toten lagen. Er bückt sich und hebt es auf: ein Medaillon aus Silber, rund, groß wie ein Groschen, an einer dünnen, zerrissenen Kette aus demselben Metall.
»Das muss der Täter beim Plündern übersehen haben«, vermutet Czrisini.
Stave starrt auf die winzige Scheibe in seiner behandschuhten Faust, tritt näher an den Scheinwerfer, flucht still über dessen flackerndes Licht. Die Rückseite des Medaillons ist unverziert und glatt poliert vom langen Tragen auf der Haut. Die Vorderseite zeigt ein Kreuz, das auf einer Art gezacktem Hügel steht. Könnten Felsen sein, oder Flammen, denkt der Oberinspektor. Links und rechts oberhalb des Kreuzes schweben zwei schräg gestellte Objekte, die Stave zunächst für zwei weitere Kreuze hält.
Der Pathologe, der neben ihn getreten ist, deutet darauf. »Das sind Dolche«, behauptet er.
»Sind Sie sicher?«
»Länger als ein Messer, kürzer als ein Schwert. Klassische leicht ovale Klingenform.«
»Das würde bedeuten, dass die Spitzen beider Dolche genau auf das Kreuz zeigen.«
»Seltsam, nicht wahr? Das habe ich noch nie gesehen.«
Stave starrt auf das Medaillon. Czrisini hat recht, denkt er. Dolche und ein Kreuz. Was soll das sein? Er lässt das Objekt in eine Papiertüte gleiten. Eine Spur, denkt er. Ich habe eine erste Spur. Fragt sich nur, wohin die führt. »Wie lange liegt er wohl schon hier?«, fragt Stave.
Der Pathologe zuckt mit den Achseln. »Mindestens einen Tag, den Totenflecken nach zu urteilen, vielleicht auch deutlich länger. Das ist bei diesen sibirischen Temperaturen schwer zu schätzen.«
»So lange wie die Tote aus der Baustraße?«
Czrisini blickt ihn einen Moment lang schweigend an. »Möglich, dass beide annähernd zur gleichen Zeit getötet wurden.«
»Was denken Sie, Herr Lieutenant?«, fragt Stave schließlich, während sich Czrisini mit einer schmerzerfüllten Grimasse die klammen Gummihandschuhe von den Händen streift.
MacDonald hat ihnen bislang schweigend zugesehen und sich diskret im Hintergrund gehalten. »Der Unglückliche geht auf dem Pfad durch die Trümmer. Dort lauert ihm sein Mörder auf, knüppelt ihn nieder, erwürgt ihn und raubt ihn aus bis auf die Haut.«
Stave kratzt sich am Kopf. »Würde ein alter Mann mit Suspensorium und Gehstock einen unebenen Trampelpfad wie diesen hier benutzen?«, fragt er.
Der Lieutenant lächelt anerkennend. »Wahrscheinlich würde ich mich in seinem Zustand auf geräumten Straßen sicherer fühlen. Also denken Sie, dass der Mann auf der Lappenbergsallee unterwegs war? Sein Angreifer schlägt ihn dort nieder, schleift den Wehrlosen bis hierhin, wo ihn niemand sieht, dann beendet er seine Tat.«
»Kann sein«, erwidert der Oberinspektor knapp. Dann denkt er wieder an die junge Frau aus der Baustraße. »Nehmen wir mal für einen Augenblick an, dass wir es hier mit demselben Täter zu tun haben wie bei dem Fall Anfang der Woche. Wie gesagt: eine Hypothese, denn manche Indizien sprechen dagegen. Zunächst eine junge Frau, nun ein alter Mann. Im ersten Fall keine ersichtliche Gegenwehr, im zweiten eindeutige Spuren von Schlägen und Gegenwehr des Opfers. Nur die dünnen Würgemale am Hals gleichen sich sehr.«
»Und in
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