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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Möbel hin und her gerückt, hat endlos lange bröseliges Brot und Magerquark gekaut, Frühstück und Mittagessen zugleich. Jetzt ist es schon nach zwei Uhr mittags und er ist immer noch nicht aus dem Haus gekommen. Er fürchtet sich, wieder ein Wochenende vergebens auf ein Zeichen seines Sohnes zu hoffen, vergebens eine ausgemergelte Gestalt nach der anderen anzusprechen, er fürchtet die leeren Blicke, die gleichgültigen Gesten.
    Und ihm steckt die letzte Arbeitswoche in den Knochen. Nichts, gar nichts. Niemand hat sich auf das Fahndungsplakat hin gemeldet, nicht einmal die üblichen Verrückten, die sich solche Gelegenheiten zur Anzeige sonst nie entgehen lassen. Wahrscheinlich ist es zu kalt, um zur nächsten Polizeiwache zu gehen, selbst für Spinner. Aber ist es denn möglich, dass mitten in Hamburg eine junge Frau verschwinden und sterben kann, ohne dass sie irgendjemand vermisst? Wenn sie denn schon keine Familie, keine Freunde hatte – irgendein Nachbar muss sie doch kennen. Stave weiß zwar, wie es im Hochbunker zugeht und in anderen Notunterkünften: Wenn man dort verschwindet, dann wird das Quartier ohne Zögern neu belegt, und es ist, als hätte man dort nie gelebt. Aber das Foto der ermordeten Frau müsste doch selbst den hartherzigsten Bunkermenschen zur Polizei treiben.
    Breuer und Ehrlich haben ihn in Ruhe gelassen, aber der Oberinspektor ahnt, dass sie Ergebnisse von ihm sehen wollen. Aber welche? Er weiß nicht weiter. Er fühlt sich zerschlagen und durchgefroren und würde sich am liebsten unter die Bettdecke verkriechen.
    Und deshalb ist er fast erleichtert, als jemand an seine Tür klopft. Jetzt muss er sich aufraffen, wozu auch immer.
    Als er Ruge vor sich sieht, weiß Stave, dass sein Versteckspiel vor der Wirklichkeit beendet ist. Der junge Schupo nimmt Haltung an, holt Luft, doch der Oberinspektor kommt ihm zuvor.
    »Wenn Sie eine frische Leiche haben, dann kommen Sie erst einmal herein«, sagt er leise. »Ihre Meldung muss ja nicht durchs Treppenhaus dröhnen.«
    Der Angesprochene lächelt unsicher, tritt ein und zieht im engen Flur den Tschako vom Kopf. »Tut mir leid, Herr Oberinspektor. Das passiert scheinbar immer dann, wenn ich im Dienst bin. Ich hoffe, dass mich das nicht zum Verdächtigen macht.«
    »Freuen Sie sich nicht zu früh«, brummt Stave, greift sich Pistole, Mantel, Hut und Schal und schafft es dabei noch, Ruge eine Zigarette anzubieten.
    Der zögert diesmal nicht, nickt dankend.
    »Wo?«, fragt Stave.
    »Lappenbergsallee, Eimsbüttel.«
    »Das ist weit im Westen. Warum muss gerade ich kommen?«
    »Der Tote ist nackt, Herr Oberinspektor. Und es sieht so aus, als sei er erwürgt worden. Ein alter Mann diesmal.«
    »Eine Abwechslung«, murmelt Stave und drückt die Wohnungstür auf. »Sind Maschke und MacDonald bereits informiert worden?«
    »Kollegen sind unterwegs zu ihnen. Sie sollen alle zum Fundort kommen. Das hat Herr Breuer angeordnet. Er wird auch dort sein.«
    Das kann heiter werden, denkt Stave. Bis sie am Fundort jenseits der Alster angelangt sein werden, wird es fast dunkel sein. Nicht gerade ideal, um den Platz abzusuchen – vor allem dann, wenn man seinen Chef als aufmerksamen Zuschauer dabeihat.
    Eine Minute später fährt der alte Mercedes mit röchelndem Motor los. Stave starrt aus dem Seitenfenster und versucht ein Muster in den Taten zu erkennen: nackte Opfer, erwürgt. Aber warum zuerst eine junge Frau, nun ein alter Mann? Für einen Moment wird ihm übel. Ist nur die abgestandene Luft im Auto und der Hunger, sagt er sich, doch er ahnt, dass ihm etwas ganz anderes zu schaffen macht: Angst.
    Von Wandsbek bis nach Eimsbüttel sind es über elf Kilometer. Obwohl Ruge den Mercedes quält, dass er durch Schlaglöcher springt und um große Bombenkrater schlingert, dauert es fast eine halbe Stunde, bis sie am Fundort eintreffen. Als sie endlich stoppen, öffnet Stave erleichtert die Tür und steigt aus. Er atmet tief durch, bis sich das flaue Gefühl im Magen aufgelöst hat, dann sieht er sich um: wieder ein Kleine-Leute-Viertel, das im Krieg schwer bombardiert worden ist. Die Bäume an der Lappenbergsallee sind niedergebrannt oder von Holzsammlern zu Stümpfen zerhackt. Dahinter erhoben sich einst viergeschossige Wohnblocks aus Backstein, doch die sind allesamt zerstört. Im letzten Sommer haben Arbeitstrupps die noch aufragenden Fassaden und Wände niedergerissen, weil sie einzustürzen drohten. Nun ist das Gelände eine bizarre Wüste von drei, fünf oder

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