Trümmermörder
mit einem Mörder zu tun haben, der seine Opfer willkürlich auswählt, dann erscheint mir sein Vorgehen unberechenbar. Einmal tötet er eine junge Frau, einmal einen alten Mann. Einmal schlägt er im Osten zu, einmal im Westen, einmal muss er bei seinem Opfer keine Gegenwehr niederringen, einmal bricht er mit Gewalt den Widerstand.«
»Und was sage ich dem Bürgermeister morgen?« Cuddel Breuer klingt so freundlich, als ginge es darum, ob Stave eine Einladung zum Picknick annimmt.
»Bitten Sie ihn, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Der Fall ist kompliziert. Wir brauchen einfach etwas Zeit.«
Breuer kratzt sich am Kopf und seufzt. »Das weiß ich. Aber Hamburg ist vom Eis eingeschlossen. Die Kohlenvorräte der Heizkraftwerke reichen noch für ein paar Tage. Wir haben kaum noch Lebensmittel. Jeden Tag erfrieren Menschen. Es ist nicht einfach für den Bürgermeister, seine Stadt zusammenzuhalten. Zeit ist genau das, was er nicht hat.«
»Aber dann muss es erst recht in seinem Interesse sein, dass Ruhe herrscht«, entfährt es Stave.
Breuer lächelt. »Gut. Niemand hat ein Interesse daran, diese Sache an die große Glocke zu hängen. Ich werde dem Bürgermeister raten, die Fälle von seiner Seite aus einfach zu ignorieren. Vorerst.«
Er tippt an seinen Hut, dann dreht er sich weg und geht.
»Scheiße«, murmelt Maschke, als der Chef außer Hörweite ist.
Doch Stave täuscht er damit nicht. In der Stimme des Kollegen schwingt ganz leise etwas mit, das ihm überhaupt nicht behagt: Schadenfreude.
Schweigend rumpeln sie in MacDonalds Jeep zurück zur Kripo-Zentrale. Im trüben gelben Licht der Schweinwerfer leuchten Schuttberge und Hauswände auf wie die Kulissen eines expressionistischen Stummfilms. Stave würde sich nicht wundern, sähe er aus den Augenwinkeln irgendwo die Fledermausgestalt Nosferatus auf einer Ruine, die klauenhaften Finger ihm entgegengereckt. Nimm dich zusammen, sagt er sich. Nicht nach einem Vampir sucht er, sondern nach einem normal aussehenden Menschen, der eine Drahtschlinge oder ein Kabel in seiner Tasche versteckt. Der sich nicht scheut, auf junge Mädchen und alte Männer loszugehen.
Am Ende der Karolinenstraße regelt ein durchgefrorener Schupo mit scharfen, wütenden Bewegungen den Verkehr: Jeeps, britische Lastwagen, zwei Unerschrockene, die mit Fahrrädern dem eisig die Straße entlangpfeifenden Wind trotzen. MacDonald fährt ruckartig an. Im Auspuff unter ihnen knallt eine Fehlzündung, der Schupo zuckt zusammen. Der Lieutenant, der ihn im Rückspiegel beobachtet, lächelt zufrieden. Drei Minuten später sind sie da.
Als sie sein Büro betreten, sieht Stave erstaunt, dass Erna Berg bereits auf sie wartet und so etwas wie Tee aufgegossen hat. Dankbar nimmt er die heiße Tasse entgegen und saugt den Duft ein. Brennnessel, vermutet er. Hauptsache warm.
»Was machen Sie hier?«, fragt er.
»Herr Breuer ließ mir ausrichten, dass es heute noch Arbeit geben wird«, antwortet sie. »Ich kann mir einen anderen Tag freinehmen. Wenn es wieder ruhiger geworden ist.«
Auf den ruhigen Tag wirst du lange warten müssen, denkt Stave düster. »Also schön«, sagt er, nachdem sie sich in seinem engen Büro Plätze gesucht haben, »nach wem sollen wir suchen?«
»Nicht nach einem Lustmörder«, meint MacDonald.
»Dann bleiben uns in Hamburg nur noch ungefähr 900 000 potenzielle Täter.« Der Oberinspektor starrt an die Decke, als würde sich dort ein Fahndungsplakat materialisieren.
»Gehen wir das Ganze neu an«, sagt er und klingt dabei, als spräche er eher zu sich selbst als zu den anderen. »Keine heiße Spur. Welche Gemeinsamkeiten könnte es geben zwischen einem Mädchen in Eilbek und einem alten Mann in Eimsbüttel? Eine Straßenschwalbe und ihr Freier? Unsere Freunde von der Reeperbahn kennen das Mädchen nicht, also deutet nichts darauf hin. Was aber verbindet sie sonst noch? Ein Ort, an dem sie sich treffen? Ein gemeinsames Schicksal?«
Niemand sagt etwas, da alle wissen, dass er die Antwort selbst geben will.
»Der Schwarzmarkt, selbstverständlich«, fährt Stave fort.
Der ist illegal, doch allgegenwärtig. Männer und Frauen, die auf Straßen oder Plätzen herumstehen, langsam auf und ab schlendern, die Gesichter unter Hüten und hochgeschlagenen Mantelkragen verborgen. Geflüsterte Worte, rasche Gesten. Da ist das zu haben, was man auf Bezugsschein nicht bekommt – ein Radio, ein paar Damenschuhe, ein Pfund Butter, schwarz gebrannter Schnaps. Im Tausch oder gegen
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