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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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bleibt? Ein paar Blätter Schreibmaschinenpapier zwischen zwei Pappdeckeln? Und nicht einmal ein Name.
    Der Oberinspektor schließt die Augen. Schwacher Trost, dass im letzten Krieg Millionen Menschen gestorben sind, die noch weniger Spuren hinterlassen haben als die drei Mordopfer, deren Akten er nun fächerförmig vor sich ausbreitet. Eine Frau. Ein alter Mann. Ein Mädchen. Was haben die drei Menschen gemeinsam – außer der grauenhaften Art ihres Endes?
    Er beschwört den Anblick des toten Kindes vor seinem inneren Auge herauf, starrt dann auf die gnadenlos detailreichen Schwarzweißfotos der beiden anderen Gesichter. Familienähnlichkeit? Alles Illusion – alle Toten sehen sich ähnlich, irgendwie. Derselbe Blick ins Nichts, die für immer eingefrorenen Gesichtszüge.
    Das Schrillen des Telefons schreckt ihn aus seinen Überlegungen. Schon wieder. Wer weiß, dass er noch hier ist? Er reißt den Hörer von der Gabel, halb erwartend, dass ihm irgendjemand den nächsten Toten meldet.
    Es ist Ehrlich.
    »Wäre es Ihnen möglich, noch für fünf Minuten bei mir im Büro vorbeizuschauen?«, fragt der Staatsanwalt höflich.
    »Selbstverständlich«, erwidert Stave.
    Die einzig mögliche Antwort, um noch größere Scherereien zu vermeiden.
    Der Staatsanwalt reibt seine Glatze, als Stave eintritt. Das Büro ist beinahe warm, der Oberinspektor saugt dankbar den Duft frisch gebrühten Tees ein. Die Amsstube wirkt fast wie eine Wohnung, denkt Stave und fragt sich, ob Ehrlich vielleicht jeden Sonntag hier verbringt.
    »Wirklich bedauerlich, dass wir Sie vom Bahnhof wegholen mussten«, murmelt Ehrlich und deutet auf den Besucherstuhl. »Sie haben dort nach Ihrem Sohn gesucht?«
    Der Oberinspektor starrt den Staatsanwalt an, verblüfft. Er fühlt sich bei etwas Peinlichem ertappt.
    Ehrlich hebt beschwichtigend die Hände. »Das ist nur eine Vermutung. Ich habe gehört, dass Ihr Kind verschollen ist.«
    »Das Wort hat einen seltsamen Klang«, erwidert Stave.
    »Und doch schmeckt es eine Spur hoffnungsvoller als ›verschwunden‹ oder das simple ›fort‹, finden Sie nicht?«
    »Sie haben auch Söhne«, stellt Stave fest. Der Staatsanwalt soll merken, dass auch er über das Privatleben anderer Leute im Bilde ist.
    Ehrlich nickt, scheinbar gleichmütig. »Zwei Söhne. Sind drüben im Internat.«
    Stave braucht eine Sekunde, bis er versteht, dass Ehrlich damit England meint.
    »Sie sind Halbwüchsige. Ein schwieriges Alter. Und die letzten Jahre waren nicht einfach: mein Exil, die Demütigungen zu Hause, das Dahinscheiden meiner Frau.«
    »Verschollen« für »verschwunden«, »Dahinscheiden« statt »Selbstmord« – Stave hat inzwischen einige Anklageschriften Ehrlichs gelesen und ihn für seine präzise, ökonomische Sprache bewundert. Doch die ist offenbar nur Angeklagten vorbehalten, wie eine Waffe, die man besser verborgen hält, wenn Freunde da sind. Er wechselt das Thema, will keine weiteren Details von Ehrlichs privaten Katastrophen erfahren und schon gar nichts von seinen eigenen preisgeben. Knapp referiert er, was er von dem neuen Mord weiß.
    »Gibt das dem Fall eine neue Dimension?«, fragt Ehrlich.
    Stave schweigt und blickt den Staatsanwalt etwas ratlos an.
    Der putzt umständlich seine Brille, bevor er erklärt: »Frauen und alte Männer werden umgebracht. Das ist bedauerlich, doch alltäglich. Aber ein Kind? Ist da die Hemmschwelle nicht noch einmal höher? Ist damit nicht die allerletzte moralische Schranke gefallen?«
    »Wenn Sie damit meinen, dass wir es hier mit einem Täter zu tun haben, dem man absolut alles zutrauen muss, dann: Ja, das meine ich«, pflichtet ihm Stave bei. »Keine Skrupel.«
    »Die meisten Täter, die sich an Kindern zu schaffen machen, werden von übergroßen Gefühlen getrieben: Lustmörder. Verzweifelte Mütter in großer seelischer Not. Männer, die in rasender Wut oder aus Rachsucht zuschlagen. Doch in diesem Fall ist der Mord so …«
    »… methodisch«, vollendet Stave. »Die Tat wird kaltblütig ausgeführt, mit einer, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, bereits bewährten Technik. Danach werden Spuren systematisch verwischt.«
    »Erinnert Sie das an etwas?«, fragt Ehrlich mit sanfter Stimme.
    »KZ«, erwidert der Oberinspektor, ohne zu zögern. »Gestapo. Einsatzgruppe. SS. Männer, die beim Töten keine Unterschiede mehr gemacht haben, was Geschlecht oder Alter ihrer Opfer angeht. Systematische Morde in immer wieder gleicher Technik. Leichen, die verscharrt werden oder

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