Trümmermörder
sich in Rauch auflösen, Akten, die verschwinden, geräumte Lager, bevor die Alliierten kommen.«
»Das ist noch keine Spur«, sagt Ehrlich versonnen, »doch nennen wir es den Ansatz einer Spur.«
»Die KZ-Wärter stehen bereits vor Gericht«, erinnert ihn Stave überflüssigerweise.
Der Staatsanwalt wirft ihm einen Blick zu, halb beleidigt, halb mitleidig. »Wenige. Die, die wir kriegen können. Selbst die meisten Wächter von Auschwitz laufen irgendwo frei herum. Ebenso wie die meisten Schläger der Gestapo. Und gar nicht zu reden von all den SS-Angehörigen.«
»Suchen wir nach einem ehemaligen Nazi-Schergen, der seiner mörderischen Ideologie auch nach dem Zusammenbruch des Regimes treu geblieben ist und nun eine Art privaten Feldzug führt?«
»Vielleicht. Oder jemand, der systematisch lästige Zeugen einstiger Vergehen beseitigt.«
Stave denkt kurz nach. »Aber was nützt mir das jetzt? Ich kann nicht jeden einzelnen Hamburger daraufhin überprüfen, was er bis 1945 getan hat. Und selbst wenn ich es könnte und jede Untat erführe – wie verbinde ich das mit den aktuellen Morden? Wir kennen ja nicht einmal die Identität der Opfer.« Stave schüttelt den Kopf. »Über die Opfer kommen wir an den Täter. Wissen wir, wer sie sind, dann werden sich Verbindungen ergeben. Gut möglich, dass die dann zu den Henkern von früher führen. Meine größte Hoffnung ist zurzeit das tote Mädchen. Das muss irgendwo zur Schule gegangen sein. Also muss es Lehrer und Klassenkameradinnen geben, die es identifizieren können. Die beiden Erwachsenen mögen vielleicht zurückgezogen gelebt haben, aber ein Kind kommt immer unter Leute.«
»Gute Idee«, murmelt Ehrlich, zieht einen Briefbogen hervor, auf den sein Name gedruckt ist, schraubt einen schweren Montblanc-Füllfederhalter auf und schreibt ein paar Zeilen. Stave beobachtet ihn schweigend, bis er in schwungvollen Linien seine Unterschrift gesetzt hat.
»Ein Empfehlungsschreiben«, erklärt Ehrlich, als er es hinüberreicht. »Sollte das Mädchen aus einer Familie von DPs oder verfolgten Juden stammen, dann fragen Sie zuerst im Warburg Children’s Health Home nach, in Blankenese. Diese Zeilen werden Ihnen den Zutritt erleichtern. Sie benötigen jedoch darüber hinaus eine Erlaubnis der Briten.«
»Ein Kinderheim?«
»Ein besonderes Kinderheim.«
Stave verzichtet auf weitere Fragen, nickt, faltet den Brief sorgfältig zusammen, steckt ihn in seine Manteltasche – und bedauert, dass er MacDonald schon nach Hause geschickt hat.
»Ich gehe zum Lieutenant«, verkündet er, »solange es noch hell ist. Mit ein bisschen Glück bekomme ich sofort die erforderlichen Papiere. Dann werde ich mich morgen früh bei Warburg umhören.«
Er erhebt sich und geht zur Tür. Als er sie schon geöffnet hat, hält ihn der Staatsanwalt mit einer Geste zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Habe mir das Datum aus Ihrer Personalakte gemerkt.«
»Danke«, murmelt Stave überrascht. Der erste Gratulant an diesem Tag. Seinem 43. Geburtstag.
MacDonald wohnt in einer requirierten Stadtvilla in der Innocentiastraße, Harvestehude, »Zone A« – ein fast unzerstörtes Viertel. Briten und Amerikaner haben mit ihren Bombenangriffen vor allem Arbeiter töten wollen, die meisten Villenbereiche ließen sie unzerstört. Wohl auch, wie Stave vermutet, weil sie damals schon daran dachten, dass ihre Offiziere nach dem Krieg ja irgendwo standesgemäß unterkommen müssen. Der Oberinspektor schlendert auf dem Weg Richtung Harvestehude an Planten un Blomen vorbei, einst der schönste Park der Stadt. Noch 1944 hat man dort neue Rosenbüsche gepflanzt, die seither jeden Sommer rot leuchtend blühen. Zwischen Rosen und Spazierwegen allerdings haben Ochsenpflüge letztes Frühjahr Furchen aufgeworfen für Kartoffelacker. Jetzt liegt der verunstaltete Park unter einer zerschlissenen Schneedecke, schwarzbraun, schmutzigweiß, verlassen.
Schilder an Seitenstraßen: »Out of Bounds for German Civilians!«, »For British Forces Only!« Frierende britische Militärpolizisten, die ihm gleichgültig nachblicken. Villen, fast makellos gepflegt, bis auf ein paar provisorische Ofenrohre, die aus den Fenstern einiger Anwesen ragen. Unzerstörte Bäume am Straßenrand. Blecherne Mülleimer vor den Toren. Still ist es zwischen den Villen, wo Häuser und Bäume die Wucht der eisigen Böen mindern. Nur gelegentlich rumpelt der Jeep einer Militärpatrouille über das Pflaster. Menschen schleichen von
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