Trümmermörder
Kinder anhand des Polizeifotos erkennen könnte?
Er blickt hinaus. Zur Linken glitzert der Eispanzer der Elbe im Morgenlicht, flach und rau wie eine riesige Betonplatte. Wenige kleine Schiffe, Frachter und Fischerboote, festgefroren an den verwüsteten Piers. Die Aufbauten zweier gesunkener Dampfer, die aus dem Eis ragen. Verbogene, halb umgestürzte Kräne. Zwei Männer, die, gebeugt und eingehüllt in Decken und Mäntel gegen den brutalen Wind, vom Harburger Ufer aus über das Eis gehen.
»Warum brauche ich eine britische Genehmigung, wenn ich dieses Kinderheim besuchen will?«, fragt Stave – halb aus Neugier, halb, um das lastende Schweigen zu beenden.
MacDonald antwortet rasch, erleichtert, ein Thema für ein Gespräch zu haben. »Der Titel des Heimes lautet ›Warburg Children’s Health Home‹. Gegründet von Eric Warburg, es ist in seiner Villa untergebracht.«
Stave nickt. »Der Bankier? Er ist emigriert?«
»In die USA, 1938. Nach dem Krieg ist er zurückgekehrt. Das Anwesen gehört wieder ihm. Er nutzt es, um jüdischen Kindern zu helfen. Überlebenden aus dem KZ zumeist. Viele haben mehr oder weniger alle Familienangehörigen verloren. Sie stammen aus etlichen Ländern. In Blankenese werden sie aufgepäppelt, bekommen gutes Essen und Schulunterricht. Die Institution untersteht einem besonderen Schutz der Besatzungsverwaltung.«
»Haben Sie schon mit den Leuten dort gesprochen?«
»Telefonisch, heute Morgen. Ich habe angedeutet, warum wir kommen, aber nicht zu viel verraten. Die Lehrerin, mit der ich redete, hatte übrigens schon von dem ermordeten Kind gehört. Das scheint sich in der Stadt schnell herumzusprechen. Sie hat die Polizeiplakate mit den Bildern der anderen beiden Opfer auch schon gesehen, die Zettel kleben ja überall. Sie vermissen in Blankenese kein Mädchen dieses Alters.«
»Warum fahren wir dann überhaupt hinaus?«, wirft Maschke ein.
»Sollte das ermordete Mädchen ein KZ überlebt haben, dann werden wir dort jemand finden, der sie erkennt«, erklärt Stave.
Sie biegen in die Kösterbergstraße ein, ein schmaler, gepflasterter Weg eine Anhöhe hinauf, gesäumt von Hecken, hinter denen raureifüberzogene Villendächer glitzern. Auf dem Gipfel der Anhöhe ragt ein riesiges, gelb verputztes Schloss auf, Türmchen, hohe Fenster, umgeben von einer Wiese. Tatsächlich ist es nur ein städtisches Wasserwerk, Relikt einer längst untergegangenen Epoche des Überflusses, in der man selbst Hallen für Pumpen wie Herrensitze gestaltete.
Die Einfahrt zur Hausnummer 60 liegt gegenüber. Hohe Hecken, eine schmiedeeiserne Pforte mit gelb getünchten Pfeilern. Ein junger Mann zieht die schweren Flügel auf, als er den Jeep erblickt. Geharkte Kiesauffahrt. Eine mächtige, kahle Eiche. Dahinter eine Gründerzeitvilla mit einem Gästehaus, im Obergeschoss Fenster rund wie Bullaugen.
Kindergesichter hinter Fenstern, neugierige Blicke. An der Tür eine Frau, vielleicht dreißig Jahre alt, kurzgeschnittenes, schwarzes Haar, eingehüllt in einen grauen Wollmantel. Sie mustert Stave und Maschke, als wären sie Straßenköter.
»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Ihren Dienstausweis nicht zückten«, begrüßt sie Stave. »Das verursacht ungute Erinnerungen.«
Seltsame Wortwahl, denkt Stave. Und seltsamer Akzent. Er stellt sich vor, verzichtet darauf, ihr die Hand anzubieten, deutet lieber eine Verbeugung an. Maschke schweigt, MacDonald salutiert lässig.
»Ich bin Thérèse DuBois. Ich habe heute Morgen mit Ihnen telefoniert, Herr Lieutenant. Man hat mich instruiert, Ihnen bei Ihrem Anliegen behilflich zu sein.«
KZlerin, vermutet Stave. Wahrscheinlich Französin, Elsass vielleicht. Viele Franzosen – Juden oder Résistancekämpfer – sind nach Bergen-Belsen gekommen. Oder nach Ravensbrück. Er denkt an den Prozess im Curiohaus. Gut möglich, dass sie Ehrlich kennt. Er verzichtet darauf zu fragen, wer sie »instruiert« hat.
»Es ist mir unangenehm, mit einem derart unerfreulichen Anliegen bei Ihnen zu erscheinen«, erwidert er schließlich. »Ich werde versuchen, unseren Besuch so kurz wie möglich zu halten.«
»Kommen Sie bitte herein«, sagt Thérèse DuBois und führt sie zu einer verglasten, geheizten Veranda, in der Korbstühle und Gummibäume in großen Keramiktöpfen stehen. Stave muss sich zwingen, nicht dorthin zu starren – er hat seit Jahren keine Zimmerpflanzen mehr gesehen.
Stave erklärt, warum er gekommen ist, und verschweigt auch die anderen beiden Morde nicht.
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