Trümmermörder
Mülleimer zu Mülleimer: einbeinige Veteranen, ein Mann mit Rucksack, ein vielleicht zehnjähriges Mädchen an der Hand, Alte, Frauen, die Kopftücher aus Scham so eng gewickelt, dass sie ihre Gesichter verbergen, als wären sie Bettlerinnen aus dem Orient. Sie öffnen die Deckel der Mülleimer, wühlen in den Abfällen nach angefaulten Kartoffeln, welken Salatblättern, Apfelstrünken. Ein junger Kippensammler sammelt ausgetretene Stummel englischer Zigaretten vom Trottoir. Niemand spricht, niemand blickt auf. Die Militärpolizisten lassen sie gewähren.
Kolonialherren, denkt Stave, die Engländer leben hier wie in Indien oder Afrika – und wir sind die neuen Kulis. Nur dass kein Inder oder Afrikaner zuvor die halbe Welt in Brand gesteckt hat und sich seine Erniedrigung deshalb selbst zuzuschreiben hätte.
Die Innocentiastraße: kahle Äste junger Ahornbäume, Jeeps am Bordstein, dahinter in Reihen fünfzig, sechzig Jahre alte weiße, viergeschossige Villen. Aus irgendeinem Zimmer weht Jazz hinaus, die BBC vielleicht oder eine Platte auf einem beschlagnahmten Grammophon.
Hausnummer 28, der Oberinspektor zeigt einem am Portal wachenden Soldaten seinen Dienstausweis und fragt nach MacDonald.
»Third floor, second left«, antwortet der Brite.
Der ist so jung wie mein Sohn, denkt Stave, und er wäre am liebsten wieder hinausgestürzt, unter die Ahornbäume, wäre gerne losgerannt bis zum Hauptbahnhof. Stattdessen nickt er und steigt die prachtvolle Treppe hoch, bemüht, sein Hinken vor den Augen des Postens zu verbergen.
Stave klopft an. Nichts. Er klopft erneut. Vielleicht ist der Lieutenant ausgegangen? Er will sich schon wegdrehen, da hört er Geräusche hinter der Tür. Also wartet er. Endlich öffnet MacDonald. Er ist nur in Hose und Hemd – und barfuß. Obwohl die Villa geheizt wird, ist es dafür eigentlich nicht warm genug.
MacDonald atmet schwer, nimmt sich dann aber offenbar zusammen und ringt sich ein Lächeln ab. »Was kann ich für Sie tun?«
Stave, der bemerkt hat, dass sich der Lieutenant im Türrahmen breit macht, tritt zurück und hüstelt. Rasch erzählt er von seinem Besuch bei Ehrlich, vom Warburg Children’s Health Home und vom dafür notwendigen Passierschein der Briten. Noch während er redet, bemerkt er eine Bewegung hinter MacDonalds Schultern, ein Schatten, der durchs Zimmer huscht.
Erna Berg.
Stave lässt sich nichts anmerken, spricht einfach weiter. MacDonald wirft einen nervösen Blick über die Schulter, blickt dann den Oberinspektor an, unschlüssig darüber, ob er sich als ertappt betrachten soll oder nicht. Dann lächelt er kurz, schüchtern, macht eine vage, irgendwie entschuldigende Geste.
»Ich kümmere mich darum«, verspricht er. »Wir fahren morgen gemeinsam hin, mit meinem Jeep geht es schneller. Und außerdem bin ich neugierig, ob Sie dort etwas herausfinden werden. Ich hole Sie in der Kripo-Zentrale ab. Wenn Sie wollen, nehmen wir Maschke mit.«
»Danke«, sagt Stave, »schönen Sonntag noch.«
»Wünsche ich Ihnen auch«, ruft ihm MacDonald nach, doch da hat Stave sich schon weggedreht. Er hat es eilig, aus dem Haus zu kommen.
Überlebende und Verschwundene
Montag, 3. Februar 1947
Schweigende Fahrt im Jeep: MacDonald steuert, Stave sitzt auf dem Beifahrersitz, Maschke auf der harten Rückbank. Der Beamte von der Sitte klammert sich am Blech der Karosserie fest, damit ihn die Stöße des Wagens nicht hochschleudern. Er wirkt, als fahre er zum Zahnarzt. Der Lieutenant starrt geradeaus, während er die Elbuferstraße hinunterdonnert. Der Oberinspektor beobachtet ihn aus den Augenwinkeln.
Kein Wort haben sie seit dem Morgen über ihr letztes Treffen verloren. Erna Berg ist ins Büro gekommen, fröhlich wie immer. Entweder weiß sie nicht, dass ich sie gestern erkannt habe, denkt Stave, oder sie ist eine verdammt gute Schauspielerin – oder so abgebrüht, dass ihr gleichgültig ist, ertappt worden zu sein. Eigentlich ist seine Sekretärin verheiratet, auch wenn der Mann verschollen ist. Ehebruch. Was geht mich das an, sagt sich Stave und versucht sich auf das nächste Verhör zu konzentrieren.
Wenn man das denn Verhör nennen kann. Ein Kinderheim. Er trägt ein Polizeifoto des ermordeten Mädchens in seiner Manteltasche. Aber soll er das den Kindern zeigen? Kindern, deren Eltern vergast, deren Spielkameraden erschlagen, deren Häuser zerbombt worden sind? Oder nur dem Leiter des Heimes? Aber kennt der alle seine Schützlinge so gut, dass er eines seiner
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