Trümmermörder
Dann räuspert er sich und zieht das Polizeifoto hervor.
Die Lehrerin betrachtet es. Sie wird noch fahler, doch schaut sie das Bild aufmerksam an. Dann schüttelt sie den Kopf. »Dieses bedauernswerte Geschöpf habe ich noch nie gesehen. Ganz sicher ist das kein Kind aus unserem Haus.«
Stave schweigt für ein paar Augenblicke und trommelt mit den Fingern nervös auf der Lehne des Korbstuhls, ertappt sich dabei, faltet die Hände. »Könnte es sein, dass eines Ihrer Kinder das Mädchen kennt? Vielleicht als Schulkameradin?«
»Sie wollen unseren Kindern dieses Foto zeigen?«
»Wenn ich so den Mörder der Kleinen finden kann: ja.«
Thérèse DuBois lehnt sich zurück und denkt nach. »Wir haben zur Zeit dreißig Kinder im Heim«, murmelt sie. »Viele sind erst zwei, drei Jahre alt. Sie verlassen das Anwesen nicht. Die schulpflichtigen Kinder werden hier unterrichtet, nicht in deutschen Schulen.« Sie spricht es aus, als wären die Schulen Gefangenenlager.
»Eigentlich haben wir momentan nur zwei Kinder, die hinausgehen. Die Besorgungen machen, spielen oder Ausflüge unternehmen. Obwohl es in den letzten Monaten dafür zu kalt geworden ist. Ich werde die beiden rufen.«
»Und ich darf ihnen das Foto zeigen?«
»Die beiden haben mehr tote Kinder gesehen als Sie, Herr Oberinspektor.«
Sie verlässt den Raum, kehrt kurz darauf mit einem Mädchen und einem Jungen wieder, beide schätzt Stave auf etwa fünfzehn Jahre.
»Leonore und Jules«, stellt Thérèse DuBois die Kinder vor, die schüchtern in der Mitte des Zimmers stehen bleiben.
Stave lächelt, MacDonald nickt aufmunternd, Maschke hustet und steht auf.
»Ich würde gerne rauchen, wenn Sie nichts dagegen haben«, murmelt er.
Der Oberinspektor nickt, woraufhin Maschke rasch hinaus in den Park geht, wo der Qualm seiner englischen Zigarette bald zwischen den kahlen Eichen aufsteigt. Stave ist das ganz recht: Je weniger Erwachsene den Kindern gegenüberstehen, desto besser. Und Maschkes zynische Einwürfe wären sowieso das Letzte gewesen, das er nun braucht.
Er erklärt den Kindern ruhig, warum er hier ist. Thérèse DuBois übersetzt dem Jungen, sie flüstert auf Französisch; das Mädchen scheint ihn zu verstehen.
Dann zeigt Stave das Foto.
Leonore und Jules starren darauf. Die Züge des Mädchens zeigen Mitleid, die des Jungen klinische Neugier. Noch bevor sie etwas sagen, kennt der Oberinspektor die Antwort.
»Das Mädchen habe ich nie gesehen«, sagt Leonore bestimmt. Ihr Akzent ist schwer. Weit aus dem Osten, vermutet Stave, vielleicht Galizien.
»Non, je n’ai jamais vu cette fille«, murmelt Jules, und das muss niemand übersetzen.
Stave lässt das Foto in seiner Manteltasche verschwinden, einerseits enttäuscht, ohne Resultat wieder abzuziehen, andererseits erleichtert darüber, das Bild nicht länger Kindern vor die Nase halten zu müssen.
»War einer von euch schon einmal in jenem Teil des Hafens? Am Billekanal? Kohle sammeln?«, fragt Stave.
»Unsere Kinder müssen nicht Kohle sammeln«, sagt Thérèse DuBois, halblaut, aber empört. Er ignoriert sie.
Leonore lächelt unsicher und, wie der Oberinspektor glaubt, ein wenig sehnsüchtig. »Da war ich noch nie. Das ist zu weit weg.«
Die Lehrerin seufzt und übersetzt die Frage auch ins Französische, ungeduldig mit den Fingern trommelnd. Jules lächelt das Lächeln eines Jungen, der das Heim öfter verlassen hat, als die Erwachsenen ahnen. Doch auch er schüttelt den Kopf.
Stave erhebt sich. »Das ist alles.«
»Werden Sie den Menschen finden, der das getan hat?«, fragt Leonore.
Für einen Moment ist der Oberinspektor verblüfft. Dann sieht er die großen, ernsten Augen des Mädchens, den drängenden Blick.
»Ja«, antwortet er, »das werde ich.«
»Und was geschieht dann?«
»Dann wird der Mörder vor Gericht gestellt und verurteilt. Damit«, er deutet mit der Hand auf die Manteltasche, in der das Foto steckt, »kommt man heute nicht mehr davon.«
Sie reicht ihm die Hand. »Viel Glück.«
Thérèse DuBois lächelt zum ersten Mal, seit sie in der Villa sind. Sie führt sie zurück zum Eingang.
»Was wird aus den Kindern?«, fragt Stave, als er schon die Klinke in der Hand hat. MacDonald steht hinter ihm, Maschke marschiert draußen hin und her wie ein gefangener Tiger, neugierig beobachtet von einigen kleinen Mädchen und Jungen, die sich inzwischen aus dem Gästehaus gewagt haben und unter einer Eiche verharren.
»Wenn sie wieder gesund und gut genährt sind, organisieren wir
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