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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Gebäude steht eine Litfaßsäule mit einem großen Plakat: schwarz-weiß, rotes Kreuz in der Mitte, viele Kinderfotos, Überschrift: »Wie suche und finde ich meine Angehörigen?« Immer wieder werden in Hamburg Plakate angeklebt wie dieses, immer gleich und doch jede Woche neu: Die Fotos sind andere. Vierzigtausend elternlose Kinder allein in Hamburg, die irgendwer aufgegriffen hat, viele so jung, dass sie nicht einmal ihren Nachnamen kennen, geschweige denn ihre Adresse. Ihre Gesichter, manche schüchtern lächelnd bei der Aufnahme, andere gleichgültig oder frech oder ängstlich, scheinen Stave hinterherzustarren, als er die Stufen hochsteigt und das schwere Portal aufdrückt.
    Die langen, düsteren Flure sind eingezwängt von wandhohen Regalen zu beiden Seiten, auf deren Brettern die Karteikarten in offenen Holzschubladen aufgereiht sind. In den Büros stehen große Tische, auf denen Bücher ausliegen: gebundene Listen mit Daten und Fotos, vor allem von Soldaten. Folianten der Verschollenen.
    Der Oberinspektor widersteht der Versuchung, zur Schubladenreihe unter dem Buchstaben »S« zu schreiten und die Karteikarte »Stave, Karl« hervorzuziehen. Was soll das noch nützen? Er geht zum Büro des Sachbearbeiters Andreas Brems, den er von seinen früheren Besuchen schon kennt.
    Der blickt auf und schüttelt mit routiniertem Bedauern den Kopf. Wie ein Bestatter, denkt Stave.
    »Nichts Neues über Ihren Sohn, Herr Oberinspektor.«
    »Ich bin dienstlich hier«, antwortet er, und es klingt unfreundlicher, als es gemeint war.
    Brems nickt, weder beleidigt noch sonderlich neugierig, und wartet ergeben auf die Frage.
    Stave erklärt ihm die Mordserie. Der Angestellte lächelt dünn.
    »Ein Engländer war deswegen schon hier. Ihre Beamten haben uns außerdem Exemplare der Fahndungsplakate vorbeigebracht«, erklärt er geduldig. »Niemand von uns kann sich erinnern, je eine der Personen auf einem Foto gesehen zu haben. Und ohne Namen können wir nicht weiterhelfen.«
    »Wie wäre es mit einem Datum?«
    Brems blickt ihn fragend an. »Wir sortieren unsere Karteikarten nach Nachname und Vorname des Vermissten. Haben wir keinen Namen, dann wird es schwierig. Bei den kleinen Kindern, die ihren eigenen Namen nicht kennen, nutzen wir selbstverständlich andere Kriterien: Geschlecht, geschätztes Alter, Auffindungsort und so weiter. Da hat einer meiner Kollegen die fraglichen Personen mit den Angaben zu dem ermordeten Mädchen abgeglichen – nichts.«
    »Können Sie feststellen, wann beim Suchdienst eine Anfrage eingegangen ist?«
    »Das ist auf jeder Karte vermerkt – und auch, wer die erste Anfrage gestellt hat. Aber die Karten sind nicht nach Eingangsdatum sortiert.«
    Stave massiert sich den Nacken. »Sind denn viele in den letzten Wochen dazugekommen? Mich interessieren nur Anfragen aus den Wochen vor dem ersten Mord bis heute. Die fünfunddreißig Tage von Anfang Januar bis jetzt.«
    Der Angestellte schüttelt verwundert den Kopf. »Aktuelle Vermisstenmeldungen landen doch normalerweise bei Ihnen, nicht beim Suchdienst. Der Krieg ist seit fast zwei Jahren vorüber. Wer seit damals einen Angehörigen nicht mehr gesehen hat, der hat sich doch längst bei uns gemeldet. Es gibt eigentlich nur zwei Personengruppen, die heute noch neue Anfragen stellen: zum einen Flüchtlinge, die erst jetzt in die Westzonen gelangen. Doch da bei der Kälte seit Wochen kein Zug mehr abgeht, ist seit Anfang Januar garantiert niemand aus dem Osten bei uns aufgekreuzt. Zum anderen haben wir ab und zu noch die besonders Verzweifelten oder Besorgten, die der Polizei alleine, verzeihen Sie mir, nicht trauen. Die wenden sich an uns, weil unsere Suchanfragen über das Rote Kreuz und die Kirchen leichter über die Grenzen der Besatzungszonen hinaus weitergereicht werden. Ehefrauen von Männern zum Beispiel, die glauben, dass sich ihr Mann bis nach Schweden oder gar Amerika verdrückt haben könnte.«
    »Wenn sich also jemand heutzutage an den Suchdienst und nicht nur an die Polizei wendet, dann spricht das dafür, dass die verschwundene Person keine oder nur rätselhafte Spuren hinterlassen hat. So dünn sind die Hinweise, dass die Angehörigen nicht glauben, die Polizei werde die Betreffenden je wiederfinden. Vielleicht finde ich gerade deshalb im Kreis dieser Vermissten Hinweise auf die Opfer, wenn ich nur genau genug nachforsche. Oder ich stoße, was ich nicht hoffe, auf potenzielle weitere Opfer, die bloß noch niemand in den Trümmern entdeckt hat.

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