Trümmermörder
die Überfahrt nach Palästina. In ihre neue Heimat. Das ist von der britischen Besatzungszone in Deutschland aus leichter zu bewerkstelligen als von jedem anderen Punkt aus, weil hier die Überwachung nicht so streng ist. Ironie der Geschichte, nicht wahr?«
MacDonald sieht aus, als habe er auf eine Pfefferschote gebissen.
Stave erinnert sich daran, irgendwo gehört zu haben, dass die Briten schon seit dem Ersten Weltkrieg Palästina besetzt haben. Er hat von Kämpfen zwischen Juden und Arabern gelesen und davon, dass die Briten keine weiteren Juden aus Europa in den Nahen Osten reisen lassen wollen. Doch die Juden, die Überlebenden des Massenmordes, wollen weg und versuchen alles, um sich auf Schiffen irgendwie nach Palästina hineinzuschmuggeln. Kein Wunder, dass der Lieutenant unglücklich ist, denkt er ein wenig schadenfroh.
»Sollten Sie noch etwas erfahren, informieren Sie mich bitte.« Er reißt ein Blatt aus seinem Notizheft und schreibt ihr Namen und Telefonnummer auf.
»Es muss schwer sein, das alles wieder in Ordnung zu bringen«, antwortet sie und faltet den Zettel sorgfältig zusammen.
Der Oberinspektor ist sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hat, und blickt sie fragend an.
»Nach all diesen Katastrophen«, erklärt sie. »Es gibt so viel aufzuräumen – und damit meine ich nicht nur die Trümmer in den Städten. Und es gibt so wenige Männer wie Sie oder Herrn Ehrlich.«
»Sie kennen den Staatsanwalt?«
»Ich war Zeugin im Curiohaus-Prozess.«
»Ehrlich bearbeitet auch diesen Fall.«
»Als ob er nicht schon genug Fälle hätte! Ein Mann mit einer Mission.«
Sie begleitet die Gäste bis zum Jeep. Dort stößt Maschke wieder hinzu, nach Tabakqualm riechend. Gerade als er einsteigt, bemerkt Stave, dass eines der Mädchen unter dem Baum auf den Mann von der Sitte deutet und ihren Spielkameraden etwas sagt. Dann führt sie eine Hand zur Kehle und macht die scharfe Bewegung, mit der man die Gurgel durchschneidet.
Die kennt Maschke, denkt Stave verblüfft. Und er ist nicht ihr Freund.
Umständlicher als nötig geht er um den Jeep und zieht dabei Thérèse DuBois unauffällig einen Schritt zur Seite.
»Wer ist das Mädchen?«, flüstert er, deutet mit der Rechten kurz auf die Kleine und kümmert sich nicht darum, ob die Lehrerin wegen dieser Frage misstrauisch wird. Ihm bleiben nur wenige Sekunden, bevor Maschke etwas bemerken würde.
Sie spürt, dass es wichtig ist. »Anouk Magaldi.« Ihre Lippen bewegen sich kaum, als sie das sagt. »Acht Jahre alt, seit einigen Wochen hier.«
»Aus einem KZ?«
»Nein. Sie lebte in Frankreich, in der Nähe von Limoges. Dort wurden ihre Eltern umgebracht. Beide waren Juden. Wir holen jetzt auch Waisen wie sie nach Hamburg. Weil es, wie gesagt, leichter ist, von hier aus Transporte nach Palästina zu organisieren.«
»Auf Wiedersehen«, sagt Stave laut. »Vielen Dank für Ihre Informationen.« Dann steigt er in den Jeep.
Auf dem Rückweg starrt er schweigend aus dem Fenster – unsicher, ob er nun mehr weiß als heute Morgen oder nicht. Das tote Mädchen ist ganz sicher kein Kind aus dem Heim, wahrscheinlich keine Jüdin aus einem Lager. Also eine Hamburgerin oder ein deutsches Flüchtlingskind oder eine DP. Welche nichtjüdischen DPs leben anderthalb Jahre nach Kriegsende noch in Deutschland? Vor allem Russen und Polen, die die Kommunisten fürchten und deshalb nicht zurückkehren wollen. Soll er Bilder der Toten zur polnischen und sowjetischen Polizei schicken? Aber wie? Und würden die ehemaligen Feinde sich überhaupt die Mühe machen, nach Leuten zu suchen, die offenbar lieber im zertrümmerten Reich ausharren, als in ihre Heimat zurückzukehren?
Ich weiß immer noch nichts, denkt er, gar nichts.
Oder doch?
Zwei Beobachtungen zwingen sich vor sein geistiges Auge, verwirren ihn, drängen ihn ab von der Spur des Dreifachmörders, der er doch eigentlich folgen muss. Warum diese Geste gegenüber Maschke? Woher kennt das Mädchen aus dem Heim den Beamten von der Sitte? Weil der, getarnt durch seinen Dienst, kleinen Mädchen nachstellt?
Er versucht unauffällig in den Rückspiegel zu blicken und das Gesicht seines Kollegen zu beobachten. Doch der Jeep bockt über den Asphalt, der Spiegel zittert, das Bild verzerrt sich für Sekunden, ist dann weg.
Und Ehrlich? Thérèse DuBois nannte ihn einen »Mann mit Mission«. Warum halst sich der Staatsanwalt auch diesen Fall auf? Kann es sein, dass er gar nicht die Demokratie aufbauen will, wie er
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