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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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behauptet hat? Dass ihn, dessen Frau in den Selbstmord getrieben wurde, etwas ganz anderes umtreibt: Rache? Rache an den Peinigern des alten Regimes. Und sind ihm diese rätselhaften drei Morde vielleicht nur ein weiteres Werkzeug dafür, um mit einem alten Nationalsozialisten abzurechnen? Aber wie?
    »Was nun?«
    MacDonalds Frage schreckt Stave auf. Er hat nicht bemerkt, dass sie die Zentrale erreicht haben.
    »Abwarten«, bestimmt er. »Heute gehen die Plakate mit dem Foto des Mädchens und des Medaillons raus. Mal sehen, ob sich diesmal jemand meldet. Maschke, sehen Sie sich noch einmal am letzten Fundort um. Vielleicht treffen Sie noch auf einen Zeugen. Vielleicht fällt Ihnen irgendetwas auf, das wir gestern übersehen haben. Möglich auch, dass uns die Kollegen vom Chefamt S heute noch einen Fund vom Schwarzmarkt melden. Oder dass Czrisini bei der Obduktion etwas bemerkt.«
    Er verabschiedet sich von den beiden Männern, steigt müde die Treppe bis zu seinem Büro hoch, schließt die Tür zum Vorzimmer. Aus irgendeinem Grund ist es ihm peinlich, Erna Berg zu sehen – er weiß um ihr Geheimnis, würde es ihr nie verraten, mag ihr aber auch nicht unter die Augen kommen.
    Allein an seinem Schreibtisch, denkt er nach. Dann fasst er einen Entschluss: Er wird weiterfahnden, wie gehabt. Doch dabei wird er sich unauffällig nach Ehrlich und Maschke umhören. Man kann ja nie wissen.
    Am nächsten Morgen eilt der Kollege vom Chefamt S in Staves Büro, bleibt im Türrahmen stehen und ruft ihm zu: »Keine Neuigkeiten. Kein Mädchenmantel, kein Suspensorium, keine Zahnprothese – wir finden nichts, was wir den Toten zuordnen können. Wenn Sie wollen, können Sie sich ein paar Dutzend Wintermäntel, Damenstrümpfe oder ausgelatschte Schuhe ansehen, die wir in den letzten achtundvierzig Stunden bei Razzien beschlagnahmt haben. Ich wüsste allerdings nicht, wie man diese Dinge mit einem der Toten in Verbindung bringen könnte. Wir suchen weiter. Gleich beginnt die nächste Aktion.«
    »Danke«, murmelt der Oberinspektor müde, doch da ist die Tür schon wieder ins Schloss gefallen.
    Keine Meldung aus der Bevölkerung zu den Plakaten. Niemand scheint das Mädchen zu kennen. Niemand scheint je so ein Medaillon gesehen zu haben.
    Stave nickt Erna Berg zu, verlegen, dann greift er sich Mantel und Hut. »Ich gehe zum Suchdienst.«
    Sie blickt ihn erstaunt an. »Da war doch schon Lieutenant MacDonald.«
    »Ich höre mich dort gerne selbst einmal um.«
    »Suchdienst« – wieder so ein Wort, an das er sich erst gewöhnen musste. Das Rote Kreuz und die beiden Kirchen haben ihre Unterlagen und ihre Experten zum vielleicht größten Fahndungsamt der Welt vereint. Dort landen alle Nachrichten, Karteikarten, Meldungen der Behörden, Polizeianfragen, alte Wehrmachtsbefehle, Gefangenenlisten der Besatzungsmächte und Tausende andere Dokumente, die Hinweise geben auf verschollene Soldaten und vermisste Flüchtlinge. Dreieinhalb Millionen Wehrmachtsangehörige, die von Familien gesucht werden, von denen niemand weiß, ob sie noch leben, und falls ja, wo. Und fünfzehn Millionen Flüchtlinge. Macht achtzehneinhalb Millionen Karteikarten, kilometerlange Reihen gelber Pappkartons, auf denen Namen, Geburtsdaten, letzte Adressen, letzte bekannte Aufenthaltsorte und mögliche Hinweise gekritzelt oder getippt worden sind.
    Eine dieser Karten trägt den Namen seines Sohnes.
    Stave kennt den Weg, er ist ihn schon oft gegangen. Über die Feldstraße, dann kleinere Trümmerpfade durch nahezu ausgelöschte Viertel. Kein Haus intakt, kaum eine Mauer, die noch steht. Ein paar Plakate und Zettel an einer Wand: Suchmeldungen, eine Mitteilung der Militärregierung und das neueste Fahndungsplakat der Kripo. Sein Werk, schon wieder von einer Windböe halb eingerissen. Mitten in den Ruinen ein abgewrackter Bus, ans Dach ein großes Schild geschlagen: »Leder-Rabe«. Der Oberinspektor fragt sich, wer hier etwas kaufen soll.
    Er erreicht die Altonaer Allee, rechte Seite, Hausnummer 91. Ausgerechnet das ehemalige Amtsgericht ist unbeschädigt. Ein wilhelminischer Justizpalast, helle Steine, Säulen, Köpfe und Figuren an der Fassade. Sicherlich allegorische Gestalten, doch Stave sieht in ihnen bloß steinerne Abbilder von Vermissten.
    Die Richter mussten fort, nun verwalten mehr als sechshundert bleiche, fleißige, diskrete, gegenüber fremdem Leid längst abgestumpfte Frauen und Männer die achtzehneinhalb Millionen ungeklärten Schicksale.
    Vor dem wuchtigen

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