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Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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grüßt freundlich, schließt dann erst die Tür hinter sich.
    Endlich, denkt Stave. Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Unwillkürlich blickt er auf ihre Hände. Eine helle Stelle am Ringfinger der rechten Hand. Ein fehlender Ehering? Geschieden? Verwitwet? Oder gar keine Marke eines jahrelang getragenen Rings, sondern eine Verletzung? Vielleicht die verheilende Wunde einer Drahtschlinge, die sie in Händen hielt? Ich werde noch paranoid, ermahnt sich der Oberinspektor.
    Ein prüfender Blick aus ihren mandelförmigen Augen. Vielleicht bereut sie es, hier aufzukreuzen, vermutet Stave. Er lässt ihr Zeit.
    Anna von Veckinhausen setzt sich ihm gegenüber auf den Stuhl, legt sich den rechten Arm quer über die Brust, die Hand ruht auf der linken Schulter. Wieder diese Geste des Selbstschutzes. Dann lächelt sie bemüht.
    »Sie ahnen, warum ich gekommen bin.«
    »Ich habe einen Verdacht.«
    »Ich habe Ihnen nicht alles erzählt.«
    »Sie haben mir bei unserem ersten Verhör erzählt, dass Sie von der Collaustraße den Trampfelpfad zwischen den Trümmern als Abkürzung genommen haben, um zur Lappenbergsallee zu gehen. Bei unserem zweiten Verhör sagten Sie aus, Sie seien von der Lappenbergsallee gekommen und wollten zur Collaustraße gehen – waren also nach dieser Version in Gegenrichtung unterwegs.«
    »Ich werde Sie nicht wieder unterschätzen«, murmelt sie.
    Stave zwingt ein Lächeln nieder. »Was also taten Sie wirklich zwischen den Trümmern an jenem Abend des 25. Januar? Und was haben Sie gesehen?«
    »Am 25. Januar habe ich gar nichts gesehen, zumindest nicht in den Trümmern. Ich war nämlich gar nicht dort.«
    Stave öffnet seinen Notizblock, blättert in den Aufzeichnungen. »Aber Sie haben den Toten am 25. Januar gemeldet. Bei der nächstgelegenen Wache.«
    »Aber ich habe ihn nicht an jenem Tag entdeckt.«
    »Sondern?«
    »Bereits am 20. Januar. Da ging ich den Trampelpfad entlang – ich kam übrigens von der Collaustraße, auch wenn das wohl jetzt gleichgültig ist. Ich sah den Toten, meldete mich aber nicht bei der Polizei.«
    »Warum nicht?«
    »Ich hatte Angst. Ich wollte keine Scherereien. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas mit der Polizei zu schaffen gehabt. Ich stamme nicht aus Hamburg, ich kenne niemanden hier, der mir helfen könnte, falls ich Ärger bekäme. Also habe ich mir gedacht, dass ich das jemand anderem überlasse. Dem Mann konnte sowieso keiner mehr helfen.«
    »Aber niemand meldete den Toten.«
    »Es war unfassbar. Ich las die Zeitung, erwartete jeden Tag, endlich eine Meldung über die nackte Leiche zu lesen. Nichts. Irgendwann begriff ich, dass der Tote unentdeckt geblieben war. Eigentlich gar nicht so verwunderlich: Wahrscheinlich gehen nicht allzu viele Menschen über diesen Pfad. Und wenn man ihn entlangläuft, dann kann man den Toten nicht sehen. Er lag ja in einem Bombenkrater, etwas abseits des Weges. Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Nach fünf Tagen habe ich es nicht mehr ausgehalten, die Polizei informiert und dabei so getan, als hätte ich den alten Mann gerade erst entdeckt. Aber das war auch nicht recht. Seitdem muss ich die ganze Zeit an diese Lüge denken, und ich frage mich, ob ich nicht die Suche nach dem Mörder behindere. Also will ich Ihnen jetzt alles erzählen – hoffentlich nicht zu spät.«
    Der Oberinspektor schweigt lange, dann fragt er: »Wenn man vom Trampelpfad aus den Toten nicht sehen konnte, wieso haben Sie ihn dann gesehen?«
    »Ich habe geplündert«, antwortet sie. »Ich ging abseits der Wege durch die Ruinen.«
    Stave reagiert nicht.
    Anna von Veckinhausen lächelt wehmütig. »Ich suchte nicht das, was Sie denken«, fährt sie fort. »Ich komme aus Königsberg. Wie Sie sich bei meinem Nachnamen denken können: Adelsfamilie, das übliche Gut, die übliche Erziehung. Dann die übliche Flucht.«
    »Wann kamen Sie nach Hamburg?«
    »Ich floh im Januar 1945. Auf der ›Wilhelm Gustloff‹. Als die unterging, wurde ich von einem Minensucher geborgen und bis nach Mecklenburg gebracht. Von dort schlug ich mich durch, bis ich im Mai 1945 hier ankam.«
    »Allein?«
    »Allein.« Sie sagt es sehr bestimmt, sehr schnell.
    Stave starrt wieder auf die helle Stelle an ihrem Finger. Wüsste gerne, ob sie schon allein war, als sie die ›Wilhelm Gustloff‹ betreten hat, denkt er. Und ob sie es noch rechtzeitig vor der Roten Armee in den Westen geschafft hat.
    »Sie leben seither in einer Nissenhütte am Eilbekkanal?«, fragt er

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