Trümmermörder
das jetzt schon in der einen oder anderen Variante von Breuer gehört, von Staatsanwalt Ehrlich, von MacDonald, selbst Kleensch von der Zeit hat es erwähnt. Er starrt den Bürgermeister an. Der blickt noch immer freundlich zu ihnen herüber, doch der Oberinspektor hat verstanden, dass diesmal in den Ausführungen noch etwas Neues mitgeschwungen ist – ein Ultimatum. Unternehmt endlich etwas oder der Bürgermeister persönlich wird sich die Kripo vorknöpfen, um nicht in den Ruch der Hilflosigkeit zu kommen. Stave begreift, dass es dabei gar nicht so sehr darum geht, den Mörder zu fassen. Es reicht, wenn es keine schlechten, sondern gute oder am besten gar keine Schlagzeilen mehr gibt. Wenn die Leute beruhigt sind. Wenn sie die Taten vergessen.
»Ich nehme an, dass diese Plakate bereits gedruckt sind?«, fragt Brauer.
Cuddel Breuer wird, zum ersten Mal, seit Stave ihn kennt, verlegen. »Wir denken, dass es notwendig ist, noch einmal nach den Vermissten zu fragen. Und die Leute zu warnen.«
»Tun Sie das. Aber ich habe von Herrn Stave gehört, dass er sich keine großen Hoffnungen macht, was die Identifikation mit Hilfe von gruseligen Fotos auf allen Litfaßsäulen dieser Stadt angeht. Ich schlage also vor, dass Sie, sollte diese Plakatierung ebenfalls erfolglos bleiben, in Zukunft diskreter ermitteln.«
»Ohne Schlagzeilen, verstehe«, sagt Stave.
Brauer lächelt traurig. »Meine Sorgen beschränken sich ja längst nicht mehr auf ein paar geplatzte Wasserleitungen. Die Krankenhäuser sind überfüllt: Lungenentzündungen, Hungerödeme, Erfrierungen. Täglich sterben inzwischen mehr Menschen, als dieser Wahnsinnige bis heute umgebracht hat. Rein statistisch gesehen ist er also das geringere Problem. Psychologisch aber leider nicht. Dieser Mörder darf nicht zum Symbol unseres Scheiterns werden. Das ist alles, was ich von Ihnen verlange.«
Schweigend gehen Breuer und Stave zurück zum Mercedes. Erst als sie die schweren Wagentüren geschlossen haben, redet der Oberinspektor – fast, als hätte er Angst, dass man ihn im Rathaus belauschen könnte.
»Was passiert, wenn die Toten niemals identifiziert werden?«, fragt er. »Und wenn wir den Fall niemals abschließen können? Wenn der Mörder davonkommt?«
»Dann beten Sie, dass bald Tauwetter einsetzt«, brummt Breuer und startet den Motor. »Damit wir uns nach unserer Degradierung zu Schupos beim Streifendienst nicht den Allerwertesten abfrieren.«
Als Stave endlich zerschlagen und hungrig den Gang zu seinem Büro hinuntergehinkt kommt, ist sein Vorzimmer leer. Erna Berg und MacDonald sind verschwunden. Dann betritt er sein Zimmer – und bleibt abrupt stehen. Etwas fehlt. Er benötigt eine Sekunde, bis er erkennt, was er vermisst.
Die Mordakten sind verschwunden.
Er stürzt zum Schreibtisch, sicher, dass er sie dort zurückgelassen hat, als Maschke ihn heute Mittag mit der Nachricht vom vierten Mord alarmierte. Er hat sie nicht wieder in die Ablage gelegt, sondern war hinausgehastet. Ob seine Sekretärin aufgeräumt hat? Niemals hat sie bislang so etwas gewagt. Er reißt trotzdem die Schublade zur Hängeregistratur auf.
Leer.
Verwirrt blickt Stave sich um. Keine Panik, sagt er sich, reiß dich jetzt bloß zusammen.
Im Vorzimmer: Keine Akten.
Schwer atmend lässt sich Stave schließlich auf seinen Stuhl fallen. Hat jemand die Akten gestohlen? Maschke, der zur Kripo-Zentrale zurückgekehrt war, als Stave noch bei Bürger-Prinz Fragen stellte? MacDonald, der auf Erna Berg einredete in seinem Vorzimmer? Oder Erna Berg, die offenbar mit ihren Nerven am Ende war? Aber warum sollte irgendjemand von ihnen Mordakten verschwinden lassen?
Für einen Moment hat Stave den fürchterlichen Verdacht, dass der Trümmermörder selbst in seine Räume geschlichen und die wenigen Spuren seiner Taten verwischt haben könnte. Absurd, sagt er sich. Oder doch nicht? Jemand sabotiert die Ermittlungen.
Was soll er jetzt tun? Zu Breuer gehen? Der würde ihm, unmittelbar nachdem ihnen der Bürgermeister persönlich den Kopf gewaschen hat, sofort wegen erwiesener Unzuverlässigkeit suspendieren. Zu Staatsanwalt Ehrlich schleichen? Das Resultat wäre dasselbe. Ich kann niemandem mehr trauen, denkt Stave. Irgendjemand will mich fertigmachen.
Bis spät in die Nacht bleibt er in seinem Büro, studiert seine Notizhefte und schreibt auf, was er über die vier Mordfälle noch weiß. Doktor Czrisini wird er unauffällig um Kopien von dessen Untersuchungsberichten bitten. Dazu neue
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