Trümmermörder
wenigen hundert Meter bis zum Rathaus, obwohl Stave lieber gegangen wäre. Das hätte ihm mehr Zeit zum Nachdenken verschafft.
Das Rathaus mit der wuchtigen Neorenaissancefassade und dem schlanken, hohen Turm ist unbeschädigt. Ein Monument von Handelsreichtum und Bürgerstolz, deplatziert inmitten der Trümmer. Auf dem Platz davor fährt eine Straßenbahn um eine Kehre und kommt kreischend zum Stehen. Händler und Postboten steigen ein. Passanten hasten über die Fläche, als würden sie noch immer zum nächsten Luftschutzkeller laufen, das Geheul von Sirenen in den Ohren.
Der Oberinspektor folgt seinem Chef in den mächtigen Bau, durch halbdunkle Gänge in ein ungeheiztes Büro. Bürgermeister Max Brauer empfängt sie: ein massiver, vitaler Mann, quadratisches Gesicht, straff zurückgekämmte graue Haare, klare Augen. Knapp sechzig Jahre alt, bis 1933 Bürgermeister von Altona. Dann vertrieben ihn die Nazis, er ging nach China, später in die USA. Vor einem Jahr kehrte er zurück, seit drei Monaten ist er Bürgermeister der Hansestadt.
Stave kennt ihn flüchtig, weil er im Dezember 1946 eine Messerstecherei unter Altonas Schwarzhändlern bearbeitete und dabei Zeugen am Tatort befragte, der Palmaille, der Elbuferstraße. Er klingelte bei den Anwohnern, es war ein Sonntagvormittag. Bei Nr. 49, Dachgeschoss, stand »Brauer« am Klingelschild, doch er dachte sich nichts dabei, schließlich ist das kein seltener Name. Er war etwas erschrocken, als er plötzlich vor dem Bürgermeister stand.
Auch der erkennt ihn jetzt wieder, schüttelt ihm die Hand. Kräftiger Druck. »Bitte entschuldigen Sie, dass hier nicht geheizt ist«, sagt der Bürgermeister. Er selbst hat seinen Mantel anbehalten, scheint aber nicht durchgefroren zu sein.
Cuddel Breuer überlässt es Stave, den Fall zu schildern.
»Wir müssen irgendetwas unternehmen«, sagt Brauer schließlich, als er den Bericht gehört hat. »Flagge zeigen.«
Cuddel Breuer nickt, Stave beschränkt sich darauf, ausdruckslos ins Nichts zu starren.
»Ich habe in all den Jahren noch nie einen Winter erlebt, der so hart gewesen wäre wie dieser«, fährt der Bürgermeister fort. »Niemand kann sagen, wann dieser Frost endlich aufhört. In einer Woche? Oder erst in einem Monat? Oder in zwei? Wie sollen wir über den Winter kommen? Schon in normalen Zeiten wäre dies eine Herausforderung gewesen. Platzende Wasserleitungen überall in der Stadt, zusammenbrechende Strommasten, blockierte Kohlefrachter, zugewehte Landstraßen, ich muss Ihnen das nicht alles erklären. Aber in dieser außergewöhnlichen Lage …«
Ich habe schon verstanden, denkt Stave. Und du bist erst seit drei Monaten Bürgermeister. Die Leute erwarten etwas von dir. Der Oberinspektor hätte Brauer gerne geholfen, er hat ihm im November 1946 seine Stimme gegeben. Aber wie? Er fühlt sich wie ein Versager und schweigt.
»Wir werden neue Warnplakate drucken«, erwidert Cuddel Breuer an seiner Stelle.
»Wir haben so viele Beamte auf den Fall angesetzt, wie wir können«, ergänzt Stave, der endlich Worte findet. »Die Briten kooperieren. Wir haben mehr Spuren verfolgt als bei jedem anderen Fall seit dem Zusammenbruch, sogar bis in die Sowjetzone hinein. Und doch wissen wir bis heute nicht einmal, wer die Toten sind. So etwas gab es noch nie.«
Der Bürgermeister nickt verständnisvoll, lächelt sogar, bleibt aber hartnäckig. »Man kann keine Verhaftung erzwingen, ich weiß. Aber ich lese auch Zeitung. Und ich höre Gespräche von einfachen Bürgern. Ich bekomme Briefe. Man trägt mir Getuschel zu, sogar aus den Reihen der Beamten dieser Stadt.
Jedermann hat Angst. Jeder fragt sich, wer die Toten sind – und wer der Mörder ist. Jeder hat seine eigene Theorie, verdächtigt jemand anderen. Ungute Gerüchte machen die Runde. Es ist, als würde all das Elend, als würden die ständigen Entbehrungen und Demütigungen einen Hass nähren, der sich ein Objekt sucht. Und der gesichtslose Mörder könnte dieses Objekt sein. Solange es so kalt bleibt und solange Sie den Mörder nicht verhaftet haben, wird dieser Zorn wachsen. Irgendwann wird man der Polizei Versagen vorwerfen. Und dann der Verwaltung allgemein. Und irgendwann wird jemand laut sagen, was sich so mancher sicherlich schon denken wird: Dass es das früher nicht gegeben hätte, unter Adolf. Ich aber werde nicht tatenlos zusehen, wie ein einziger verrückter Mörder eine Lage schafft, in der sich unsere Bürger nach den Nazis zurücksehnen.«
Stave hat
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