Trümmermörder
dabei«, sagt er leichthin. »Koloniale Tradition. Machen Sie sich nichts daraus, alter Junge.«
»Schranke bleibt Schranke, ich bin doch kein Kuli«, erwidert Stave.
»So ein Schild ist immerhin offen und ehrlich«, gibt der Lieutenant zurück, plötzlich ernst. »Ich versichere Ihnen, dass wir in England noch ganz andere Schranken ziehen. Unsichtbare, hinterhältige. In Oxford, in bestimmten Clubs, im Offizierskasino. Irgendwie bringen sie einen dazu, dass man sich plötzlich für die eigene Herkunft, die eigene Familie, den eigenen Nachnamen schämt.«
Stave denkt an seine eigene Karriere bei der Polizei. Nicht gerade brillant. Außerdem gab es Ärger mit den Nazis. Aber hat er sich je seiner Herkunft geschämt? Wurde ihm je eine Tür vor der Nase zugeschlagen, weil er in der falschen Familie geboren war? Er fragt sich, welche stummen Kämpfe MacDonald wohl schon durchgestanden hat, um dort zu sein, wo er nun ist.
»Gegen Ihren Nachnamen habe ich nichts«, sagt er laut.
»Sie sprechen ihn sogar korrekt aus«, erwidert der Lieutenant und lächelt wieder.
Auch Stave schmunzelt. Tut gut, mal nicht auf der Hut zu sein, denkt er, sagt aber nichts.
Maschke tritt ein. Stave hatte den Kollegen zu einer Pause verdonnert, doch inzwischen scheint er sich von der Obduktion erholt zu haben. Wir drei schaffen das schon, denkt der Oberinspektor.
Er schließt die Tür zu seinem Büro und erzählt ihnen von der Leichenöffnung. Vom Chefamt S, dem er Fotos des Ohrgehänges geschickt hat, gibt es keine neue Meldung. Das zweite Schmuckstück ist auf dem Schwarzmarkt bislang nicht aufgetaucht. Ein Beamter hat die wenigen Juweliere der Stadt abgeklappert, die schon wieder geöffnet haben: nichts. Keiner hat etwas Derartiges gefertigt. Seinen gestrigen Besuch bei Bürger-Prinz erwähnt Stave nicht.
»Neue Vorschläge?«, fragt er schließlich.
»Schicken wir die Fotos und Beschreibungen der drei toten Erwachsenen an alle Kripo-Dienststellen im ehemaligen Reichsgebiet. Sofern sie noch existieren. Vielleicht ist einer ja nicht nur Opfer, sondern auch mal Täter gewesen und erkennungsdienstlich behandelt worden«, wirft Maschke in den Raum.
Stave nickt, unwillkürlich verärgert. Simple Idee. Darauf hätte er auch selbst kommen können. Das zermürbt mich langsam, denkt er. Gut, dass wenigstens Maschke noch mitdenkt. »Angenommen, es handelt sich bei allen Opfern um Angehörige einer Familie. Eine wohlhabende Familie. Nicht aus Hamburg.«
Die drei diskutieren die Hypothese, wobei eigentlich nur zwei reden, Maschke und Stave, denn MacDonald starrt gedankenverloren aus dem Fenster. Für Stave ein Gespräch mit Déjà-vu, denn es verläuft ungefähr so wie die Unterhaltung mit dem Psychologen. Nur dass jetzt niemand mehr ernsthaft die Vermutung äußert, die ältere der beiden Frauen könnte die Mutter des Mädchens sein.
»Wenn es eine Beziehungstat ist, dann haben wir kaum eine Möglichkeit, ohne weitere Spuren etwas von den Motiven zu erfahren«, schließt Maschke. Er klingt müde. »Sollte irgendjemand wütend sein auf seinen Papi, weil der ihm mal den Tretroller weggenommen hat, und sollte er deshalb seine Familie auslöschen – wie können wir davon erfahren? Oder wenn der perverse Onkel sich an seinen Nichten vergreift. Oder die jahrelang gequälte Gattin ihre lästige Verwandtschaft loswerden möchte. Alles Motive, aber nichts davon würde nach draußen dringen. Wir haben nichts, das wir verfolgen können.«
»Höchstens Erbschleicherei«, erwidert Stave, dem eine Idee kommt. »Jemand bringt alle Verwandten um, damit er ein Erbe antreten kann. Alle Opfer waren wohlgenährt, also nicht arm. Da muss es etwas zu erben geben. Schon immer hat es Menschen gegeben, die wegen einiger Mark zu Mördern wurden. Heute jedoch treibt einen vielleicht nicht nur die Gier dazu, ein Erbe vorzeitig antreten zu wollen, sondern auch die Not. Eine beheizbare Unterkunft. Ein paar alte Medaillen oder Bilder, die man auf dem Schwarzmarkt verschanzen kann. Das ist für den einen oder anderen der Unterschied zwischen erfrieren und nicht erfrieren. Zwischen verhungern und nicht verhungern. Ich halte das zwar nicht für sehr wahrscheinlich, weil die Opfer so schrecklich perfekt ausgeplündert wurden. Würde das ein Erbschleicher machen? Trotzdem müssen wir diese Möglichkeit beachten.«
Maschke denkt ein paar Augenblicke darüber nach, nickt. »Also schön«, murmelt er. »Aber was sollen wir tun?«
»Wenn wir alle Kripo-Dienststellen im alten
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