Trugschluss
Häberle hasste diese
allgemeinen Floskeln.
Bruhn schaltete sich ein. »Das spielt hier
doch keine Rolle. Wir haben auszuführen, was von uns verlangt wird. Und damit
basta.«
Betretenes Schweigen. Häberle verschränkte
die Arme und grinste in sich hinein. Als Dienstpläne und Maßnahmen, die
Aufteilung von Fahrzeugen und der Objekt- und Personenschutz besprochen waren
und keiner aus der Runde widersprach, da räusperte sich Häberle. »Wird es denn
für denkbar gehalten, dass unser Geislinger Fall, diese Brummton-Geschichte und
die Leiche von vor vier Jahren einen …« Der Ermittler wagte es kaum so deutlich
auszusprechen, »… einen terroristischen Hintergrund haben könnte.«
Brause antwortete so schnell, das kein
anderer es vor ihm tun konnte: »Nein. Es gibt aus Sicht des IM keinen Grund,
das eine mit dem anderen zu verquicken.« Er musterte nacheinander die Männer,
die regungslos um den Tisch saßen. »Und wir … wir sollten es auch nicht tun.«
Brunzl, der Staatsschützer, machte sich eifrig Notizen.
»Da haut’s dir’s Blech weg«, staunte Linkohr drei Tage vor
Weihnachten. Es war Winteranfang und das Wetter in Geislingen nass und kalt. Im
Büro brannte das Licht – und nebenan hatte die Sekretärin das vierte Kerzchen
am Adventskranz entzündet. Die weihnachtliche Urlaubssperre und die
angeordneten Dienste bis Mitte März lagen wie ein Dämpfer auf der Stimmung im
Gebäude der Kriminalpolizei.
Doch das Fax, das Linkohr jetzt in der
Hand hielt, konnte ihn zu neuen Taten ermuntern. Lugano hatte geschrieben. Es
gebe Hinweise, dass Blühm in Morcote gesehen worden sei – in einem kleinen
Lokal. Jemand habe ihn am gestrigen Sonntagabend dort in Begleitung eines
jungen Mannes und einer jungen Frau erkannt. Der Zeuge, so hieß es in dem Fax
weiter, sei ziemlich zuverlässig. Nichts habe darauf hingedeutet, dass der
Vermisste entgegen seines Willens dort festgehalten werde.
Linkohr las das Fax auch noch ein zweites
Mal. Wenn das so stimmte, dann hatte Blühm tatsächlich sein Verschwinden selbst
organisiert. Also doch ein neues Leben, ohne Frau und ohne Vergangenheit, die
ihn möglicherweise eingeholt hatte? Blühm ein Mörder? Aber warum dann der
Aufwand mit den DNA-Spuren eines Opfers von vor vier Jahren?
Linkohr ließ seiner durchaus großen
Fantasie freien Lauf. Doch darüber würde er mit niemandem von den Kollegen
sprechen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, als Spinner abgetan zu
werden. Und nichts konnte bei der Polizei für ein Fortkommen gefährlicher sein,
als den Boden dessen zu verlassen, was der allgemein gültigen Realität
entsprach. Da würde Bruhn keine Gnade kennen.
57
Häberle war von der Mitteilung seines jungen Kollegen keinesfalls
allzu sehr überrascht. Dass Blühm sich freiwillig abgesetzt hatte, entsprach
seiner Theorie. Es ärgerte ihn aber, dass die Angelegenheit nicht mit dem
nötigen Nachdruck weiterverfolgt werden konnte. Stattdessen waren die Beamten
an Maßnahmen gebunden, die äußerst personalintensiv waren. Tag und Nacht, rund
um die Uhr mussten eine Vielzahl von Einrichtungen bewacht werden. Zum Glück,
dachte Häberle, gab es im Landkreis Göppingen schon lange den Stützpunkt der
Amerikaner nicht mehr. Nur dieser verdammte Stahlgittermast bei Hohenstadt galt
noch als militärische Anlage – wo hingegen das Depot in Amstetten, im Volksmund
auch noch ›Deutscher Wald‹ genannt, im Zuständigkeitsgebiet des
Alb-Donau-Kreises lagen. Ganz zu schweigen von diesem Truppenübungsplatz bei
Münsingen, um den sich die PD Reutlingen kümmern musste.
Häberle wäre kein Ermittler mit Leib und
Seele, wenn er sich von »den Bürokraten da oben«, wie er sich immer
auszudrücken pflegte, von seinem beharrlich eingeschlagenen Ziel abbringen
ließe. Deshalb rief er an diesem Montagabend die Eltern dieses Vollmers in
Lonsee an und bat sie um ein Gespräch.
Nach Dienstschluss quälte er sich auf der
B 10 von Göppingen talaufwärts in Richtung Ulm. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge
spiegelten sich auf der nassen Fahrbahn, auch die weihnachtlichen
Lichterketten, die in manchen Orten die Straße überspannten. Geislingen
entpuppte sich auch diesmal wieder als Nadelöhr. Von Ampel zu Ampel zuckelte
Häberle hinter einem Vierzigtonner her und brauchte 20 Minuten, bis er die paar
Kilometer der Ortsdurchfahrt hinter sich gebracht hatte. Doch auf dem
anschließenden Anstieg zur Albhochfläche hatte er keine Chance, den Lastzug
überholen zu können. Während er
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