Trugschluss
schluckte. Dieses Datum war ihm
suspekt. Doch es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Sein Handy, das in
der Innentasche seines Jacketts steckte, verbreitete die ihm wohl bekannte
Melodie. Er entschuldigte sich, sah auf das Display und erkannte, dass es
Linkohr war.
»Ja«, meldete sich Häberle und lauschte.
Nach einigen Sekunden, während denen er die Augenbrauen verengte, fragte er
plötzlich: »Wo? Bei Blaubeuren?« Wieder verfolgte er gespannt, was Linkohr zu
sagen hatte, während die Vollmers spürten, dass etwas Schlimmes geschehen sein
musste.
»Und der Steinbach ist allein beteiligt
gewesen?«, resümierte Häberle ungläubig und blickte auf die vielen Buchrücken
in der Regalwand. Okay, tödliche Unfälle gab’s immer wieder, schon gar bei
diesem Sauwetter, dachte er. Aber war dies denn nicht schon der dritte, der
sich in dieser Brummton-Clique abspielte?
58
Nach Weihnachten 2003.
Georg Sander, der Lokaljournalist, hatte sich zum Jahresende
vorgenommen, die Kriminalfälle des vergangenen Jahres in der Zeitung
darzustellen. Und dazu gehörten natürlich auch der dubiose Einbruch bei Lilo
Neumann, das Verschwinden des Kreisrats Blühm und das Auffinden seines Autos
bei Hohenstadt. Seit über den Kommunalpolitiker nichts mehr in der Zeitung
stand, weil Sander versprochen hatte, vorläufig stillzuhalten, um die
Ermittlungen nicht zu gefährden, kamen immer häufiger Anrufe von Lesern, die
besser informiert werden wollten. Es gab offenbar inzwischen die wildesten
Spekulationen, was mit Blühm geschehen sein konnte – bis hin zum Abtauchen in
den Terrorsumpf.
Auch Frau Blühm war mehrfach an Sander
herangetreten. Die Polizei hatte ihr zwar mitgeteilt, dass ihr Mann
möglicherweise am Luganer See gesehen worden sei, doch wollte sie sich mit dem
Gedanken, ihr Bruno habe ein neues Leben angefangen, überhaupt nicht
anfreunden. Das Telefonat mit Sander am Samstag nach Weihnachten wurde lang.
Sie schüttete ihm ihr Herz aus und
berichtete, dass sich die Verwandtschaft an den Feiertagen rührend um sie
gekümmert habe. Außerdem, so Sanders Eindruck, war die Frau ziemlich gefasst.
Vorsichtig auf dieses Verhalten angesprochen, ließ sie etwas durchblicken, was
den Journalisten hellhörig werden ließ: »Bruno hat im letzten halben Jahr ein
paar Mal gesagt, dass es durchaus sein könne, dass er mal kurzfristig weg
müsse. Ich soll mir dann keine Sorgen machen.« Sie zögerte. »Aber ich hab doch
nicht geglaubt, dass er wie vom Erdboden verschluckt sein würde. Jetzt sind es
schon fast vier Wochen – und Weihnachten war auch.« Ihre Stimme klang irgendwie
traurig, dachte Sander, aber sie war nicht verzweifelt, nicht so, wie man dies
von den Hinterbliebenen anderer Vermissten kannte.
»Was glauben Sie denn, woran er arbeitet?«
Sander erwartete keine brauchbare Antwort.
»Er hat mal gesagt, im März werde es
spruchreif, im März 2004«, erwiderte die Frauenstimme im Telefon. Der
Journalist stand auf und blickte auf die weihnachtlich geschmückte
Fußgängerzone hinab, in deren Mitte die Lichter eines prächtigen Christbaumes
glitzerten.
»Hat er gesagt, am wievielten März?«
»So weit ich weiß, sollte es der
Vierzehnte sein.« Sie sprach mit fester Stimme, aber nur für diesen einen Satz.
Dann wehklagte sie: »Aber er ist doch Ende November schon gegangen.«
Sander versprach, am Ball zu bleiben – und
das war nun zwei Tage her. Jetzt, am letzten Montag des Jahres, bat er Häberle
um einen Gesprächstermin. Dieser gab sich ungewöhnlich vorsichtig und
zurückhaltend und erklärte, dass ab sofort »alles über den Ö« laufen müsse,
über den Beamten für Öffentlichkeitsarbeit. Zum Fall des Vermissten Blühm gebe
es nichts Neues. Der Journalist stutzte. Das hörte sich so an, als sei dem
guten Häberle ein Maulkorb verpasst worden – und zwar ein ziemlich großer. Dann
würde es keinen Sinn machen, ihn mit Fragen zu bombardieren und ihn in
Bedrängnis zu bringen. Sander beschloss, ihn vorerst in Ruhe zu lassen und sich
auf die eigenen Recherchen zu beschränken. Jetzt, zum Jahreswechsel, wollte er
eine umfassende Hintergrundsgeschichte zu einem äußerst mysteriösen
Kriminalfall schreiben und die Frage in den Raum stellen, ob es Zusammenhänge
gab zwischen Lilo Neumanns Brummton und dem Verschwinden des
Kommunalpolitikers. Diese Variante war bisher nicht öffentlich dargestellt
worden. Sander war sich bewusst, welcher Spagat ihm damit gelingen musste: Zum
einen seriöse Berichterstattung,
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