Trugschluss
Einfluss von Vakuum und Schwerelosigkeit könne man neue Werkstoffe testen
und Technologien erproben, wie es unter irdischen Bedingungen niemals möglich
wäre. Außerdem würde das Satelliten-Navigationssystem, GPS genannt, weiter
verfeinert und ein weitaus besseres vorbereitet. Um jeden Punkt auf der Erde
exakt bestimmen zu können, mussten Bruchteile von Sekunden berücksichtigt
werden, die als Funkwellen zwischen Sender und Empfänger unterwegs waren.
Zeitverschiebungen also, die hier wie dort eine Rolle spielten.
Als die weiße Spur des Shuttles am
tiefblauen Himmel abbrach, was darauf hindeutete, dass es die Atmosphäre
verlassen hatte, blieb nur ein silbern glitzernder Punkt übrig, der jetzt in
eine flache Bahn überging, hinaus auf den Atlantik.
Das Paar auf der obersten Tribünen-Reihe
blickte sich zufrieden an. »Na denn, guten Flug«, lächelt der Mann. Seine
Begleiterin klopfte ihm anerkennend auf den linken Oberarm und lächelt: »Die
Jungs werden das hinkriegen.«
Die Menschen um das Paar herum starrten
noch immer gebannt nach oben. Niemand wollte jetzt den Blick von dem winzigen
Punkt lassen, der wie ein Stern am Taghimmel zu stehen schien. Wer ihn einmal
verloren hatte, fand ihn mit bloßem Auge nicht mehr. Derweil ragte noch immer
die weiße Säule aus Dampf und Abgasen nach oben, wirkte inzwischen aber
ausgefranst, weil sie von dem leichten Wind südwärts getrieben wurde.
»Die Faszination kennt keine Grenzen«,
meinte der 40-jährige, als er die sichtlich aufgewühlten Zuschauer betrachtete.
Die Frau pflichtete ihm bei und lächelte
vielsagend: »In der Raumfahrt gehen die Uhren halt anders.«
Der Mann schaute sie von der Seite an und
wischte sich mit dem Handrücken wieder die Schweißperlen von der Stirn: »Wie
recht du doch hast …« Dann deutete er seiner Begleiterin an, die
Zuschauertribüne noch vor dem großen Gedränge verlassen zu wollen, das gleich
zu erwarten wäre. »Holen wir uns das Bohnengericht«, sagte er und ging voraus
die Stufen hinab. Dass es nach dem Start für alle Besucher ein Bohnenessen gab,
in Styropor-Tellerchen ausgegeben, war längst zur Tradition geworden. Ein
Ritual aus den Anfangszeiten der Raumfahrt. Dabei konnte keiner aus den Reihen
der ESA so genau sagen, warum eigentlich.
14
Lugano einen Monat später, am Montag, 21. Mai 2001 .
Jens Vollmer, der junge Physiker aus Ulm, hatte den Job voriges
Jahr angenommen. Die Honorierung war überdurchschnittlich und der Arbeitsort in
diesem mediterranen Klima südlich der Alpen angenehm – vor allem aber hatte
sich die Freundschaft mit Claudia aus Berlin vertieft. Was damals, im März, so
merkwürdig begonnen hatte, war kein Strohfeuer gewesen. In Vollmer waren nach
wenigen Wochen die nagenden Zweifel ausgeräumt, dieses Mädchen könnte eine
Agentin sein, die ihm lediglich den Job bei Armstrong schmackhaft machen sollte.
Zwar war dies, wie sie längst einräumte, tatsächlich anfangs ihre Aufgabe
gewesen, doch hätte sie sich dazu nicht überreden lassen, wäre ihr der junge
Mann, den sie in Armstrongs Appartement damals über eine versteckte Videokamera
vom Nebenraum aus beobachtet hatte, nicht wirklich sympathisch gewesen.
Schon zuvor hatte ihr Armstrong vom
Lebenslauf des jungen Mannes berichtet, über den ausführliche Erkundigungen
eingezogen worden waren, nachdem er sich ganz offiziell für den Job in Lugano
interessiert hatte.
Vollmer fühlte sich inzwischen im Tessin
wohl, auch wenn seine Eltern daheim auf der Schwäbischen Alb seine Entscheidung
bis heute nicht verstehen konnten. Immerhin hatte er auch ihnen nichts von den
Hintergründen seiner Tätigkeit erzählt. Die Honorierung war so traumhaft hoch,
dazu noch in Schweizer Franken und regelmäßig ausbezahlt auf ein Schweizer
Konto, dass er nichts aufs Spiel setzen wollte. Ganz zu schweigen von den
Strafen, die ihm in einem solchen Fall angedroht waren.
Seine Zwei-Zimmer-Wohnung im Ulmer
Fischerviertel hatte er vorübergehend an einen Studenten vermietet. In Lugano
war er auf Vermittlung Armstrongs am Hang des Monte Bré in eine schmucke
Ein-Zimmer-Wohnung gezogen, deren Miete für ihn bezahlt wurde. Das Gebäude
befand sich unweit jenes Terrassenhauses, in dem er vor einem Jahren diesen
Amerikaner kennengelernt hatte.
Mittlerweile allerdings kam Vollmer nur
noch sporadisch in seiner Wohnung vorbei. Die meiste Zeit lebte und schlief er
bei Claudia.
Ihrer beider Arbeitsplätze befanden sich
nur ein paar Kilometer entfernt – über dem
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