Trugschluss
wie Sie, Herr Sander, wie viel Unfug im Internet verzapft wird, ohne
Quellenangabe. Aber wenn das alles Hirngespinste sind, warum tauchen dann hier
plötzlich Gestalten auf, die sich nach unseren Aktivitäten erkundigen?«
Der Journalist schrieb solche Sätze
wortwörtlich mit. Sie eigneten sich bestens, um die Reportage lebhaft gestalten
zu können. Als Brobeil eine kurze Pause einlegte, hakte Sander sogleich nach: »Von
welchen Gestalten sprechen Sie?«
»Na ja, der Knabe von gestern Abend
spricht doch wohl für sich, oder? Nach diesem Überfall oder wie man es auch
sonst nennen mag, erscheint manches in einem ganz anderen Licht. Wir beobachten
nämlich seit Monaten einige seltsame Typen, die sich an unsere
Interessengemeinschaft heranmachen.«
»Interessengemeinschaft?«, fragte Sander.
Neumann ergriff das Wort: »Ja,
Brummton-Geschädigte aus der Umgebung. Haben wir inzwischen gegründet. Wir
treffen uns mehr oder weniger regelmäßig – und wir pflegen Kontakte zu anderen
Gruppen, die es in ganz Deutschland gibt. Und sogar im Ausland.«
Brobeil fuhr sich durchs zersauste Haar. »Auch
bei denen sind dubiose Personen aufgetreten. Und vereinzelt gibt es sogar
Hinweise auf möglicherweise abgehörte Telefone.«
»Ach …«, Sander blickte ungläubig von
seinem Notizblock auf.
»Ja, stellen Sie sich das vor!«, empörte
sich Lilo, deren rechtes Augenlid zuckte.
Ihr Mann legte nach: »Es soll sogar schon
Tote gegeben haben.«
Diese Bemerkung schien Brobeil unpassend
zu sein, weshalb er sich sofort einschaltete: »Herr Neumann meint, dass ein
Mitglied einer Interessengemeinschaft in Norddeutschland bei einem etwas, na,
sagen wir mal, merkwürdigen Unfall ums Leben gekommen ist.«
Sander wollte Einzelheiten hören: »Wie ist
das zu verstehen?«
Der Theologe verschränkte die Arme und
lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück: »Mitten in der Nacht auf einer
einsamen Landstraße, irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern sei’s gewesen, da, wo
es noch so viele Alleenbäume gibt, da ist er gegen eine dicke Linde gekracht.
Einfach so.«
Sander runzelte die Stirn und zeigte sich
skeptisch: »Das kommt da oben immer mal vor.«
»Richtig. Das Merkwürdige dabei ist für
uns aber, dass der Mann gerade auf der Heimfahrt von einem Treffen der dortigen
Interessengemeinschaft war.«
»Ich krieg schon wieder Gänsehaut«,
bemerkte Lilo. Ihr Mann legte den Arm um ihre Schultern.
»Wenn das stimmt, was Sie berichten und
wenn der Unfall tatsächlich keiner war, dann würde dies doch bedeuten, dass
hier …”, Sander rang nach einer Erklärung, »… ja, dass hier Agenten am Werk
sind.«
»Dieser Verdacht liegt nahe«, bekräftigte
Brobeil, »auch wenn wir selbst es nicht glauben wollen.«
»Aber das Vorgehen dieses Einbrechers«,
warf Neumann ein, »das lässt doch keinen Zweifel mehr aufkommen.«
Sander nickte. »Dann sind Sie aber alle in
Gefahr. Was sagt Häberle dazu?«
»Er hat Frau Neumann empfohlen, vorläufig
das Haus nicht zu verlassen. Winfried hat seinen Weihnachtsurlaub vorverlegt«,
erklärte der Theologe.
»Ja und Sie?«, hakte Sander nach, »Sie wären
doch genauso in der Schusslinie.«
»In der Tat, wir müssen aufpassen«,
bestätigte Brobeil, »sehr sogar.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und
ab sofort womöglich auch Sie, Herr Sander. Es sei denn, es gelingt uns,
möglichst schnell einen Artikel zu veröffentlichen, in dem all das dargestellt
wird, weshalb die uns mundtot machen oder einschüchtern wollen.«
Sander war von der Idee begeistert, hatte
aber gleich das dumpfe Gefühl, damit in der Redaktion auf Widerstand zu stoßen.
Schließlich hatten sich nicht mal die ganz großen Medien an die Sache
herangewagt. Der Journalist wusste aus jahrzehntelanger Erfahrung nur allzu
gut, wie vorsichtig und kritisch man mit Schilderungen über angebliche
Sensationen und Skandale umgehen musste. So lange sie nicht wasserdicht
recherchiert waren, wäre es unverantwortlich, sie zu veröffentlichen.
Spätestens seit den Hitler-Tagebüchern , mit denen der Stern gewaltig auf die Nase gefallen war, legten seriöse Medien noch größeren Wert
auf hieb- und stichfeste Beweise, als je zuvor. Und wie sollte da eine Story
über Brummton-Agenten und deren Machenschaften groß aufgemacht erscheinen
können? Das war doch allenfalls eine sogenannte ›bunte Geschichte‹, eine Glosse
am Rande! Sander war viel zu sehr Realist, um sich eine wirkliche Chance für
eine große Skandal-Reportage auszurechnen.
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