Trugschluss
Was er brauchte, waren Fakten. Mit
Vermutungen und Verdächtigungen allein war ihm nicht geholfen.
»Sie sind hin und her gerissen, das seh
ich Ihnen an«, sagte Brobeil plötzlich. »Einerseits hätten Sie gern die große
Geschichte, andererseits sind Sie sich nicht sicher, ob wir vielleicht doch
Spinner sind.« Der Theologe lächelte verständnisvoll.
Sander wollte seinen Gesprächspartnern
nichts vormachen: »So könnte man es ausdrücken, wobei ich aber ausdrücklich
sagen möchte, dass ich bisher nie den Eindruck hatte, dass Sie irgendwelchen
Hirngespinsten nachjagen.«
»Tun wir auch nicht«, entgegnete Neumann
energisch. »Wir können Ihnen ja mal eine Kostprobe von dem geben, was wir
herausgefunden haben.« Seine Frau nickte und atmete schnell.
»Wenn ich von, ›wir‹ spreche, meine ich
nicht nur uns«, erläuterte Brobeil, »wir, das sind alle
Interessengemeinschaften in Deutschland. Und da sind, das können Sie mir
glauben, hochkarätige Leute drunter. Physiker, Chemiker, Techniker aus allen
Bereichen. Also nicht nur Hobby-Forscher oder Pseudo-Wissenschaftler, sondern
Leute, die verstehen, wovon sie reden. Nachdem mir Winni,« er lächelte
verlegen, »also Herr Neumann bei unserer Zufallsbegegnung im Gebirge vom
Leidensweg seiner Frau erzählt hat, hab ich mich in die Sache reingekniet.
Anfangs war ich genauso skeptisch, wie Sie vielleicht, Herr Sander. Aber je
mehr ich mich damit befasst hab, desto verworrener erscheint mir dies alles.«
Er schaute dem Journalisten fest in die Augen. »Aber bedenken Sie doch eines,
das wissen Sie genauso gut, wie ich: Seit die Menschheit vor hundertfuffzig
oder zweihundert Jahren richtig erwacht ist, weil’s ein paar wenige Erfindungen
gegeben hat, die wie Initialzündungen gewirkt haben, seit dem ist eine Lawine
ins Rollen gekommen, die immer schneller wird. Und was sagt uns dies alles? Was
lehrt uns die Vergangenheit, aber auch die Gegenwart?« Brobeil zögerte. Dann
gab er sich selbst die Antwort: »Es wird alles getan, was technisch machbar
ist. Alles.«
Sander gab dem Theologen insgeheim recht.
Draußen brach die Dämmerung herein.
»Dem Menschen ist es völlig gleichgültig,
was er anrichtet. Leider ist er inzwischen in der Lage, komplexe Zusammenhänge
zu erkennen und in sie einzugreifen. Was ist schon die Natur?« Brobeil wurde
leidenschaftlich. »Stück für Stück werden wir sie doch beherrschen, wär ja noch
schöner, wenn dies nicht ginge! Was stört denn die wild gewordenen
Wissenschaftler, vor allem aber die raffgierige Industrie oder die
machtbesessenen Politiker, wenn ganze Systeme durcheinander geraten,
Lebensbausteine, Lebensgrundlagen! Von den Militärs ganz zu schweigen. Die tun
doch alle, als gäb es jede Menge Erden, auf die wir nach belieben umziehen
können. Wenn die eine versaut und ausgebeutet ist, geht’s halt zur nächsten. So
denken die, Herr Sander«, ließ sich der Theologe jetzt in emotionale
Ausführungen ein. Der Journalist hörte interessiert zu.
»Der Mensch laboriert an allem rum«, fuhr
Brobeil fort, »nur vergisst er, dass es eine große Macht, eine große Kraft war,
die das alles so wunderbar eingerichtet und ins Gleichgewicht gebracht hat:
Gott. Ja, nennen wir ihn beim Namen. Gott. Und vielleicht entsinnen Sie sich,
was da in der Bibel steht – in der Schöpfungsgeschichte, die natürlich ein Bild
ist, das man nicht wortwörtlich nehmen darf. Gott hat in einer uns heute völlig
logisch erscheinenden Reihenfolge dieses Universum geschaffen. Zuerst das
Licht, dann das Wasser – und so weiter. Aber das Entscheidende ist die
Bemerkung, die eher beiläufig fällt: Und Gott sah, dass es gut war.« Der
Theologe, das war seinen Zuhörern klar geworden, hatte offenbar das Predigen
nicht verlernt. »Er sah, dass es gut war«, wiederholte er, »aber sind wir doch
ehrlich: Wir Menschen experimentieren an der Schöpfung rum – und fragen uns
nicht, ob es gut ist …«
Sander ließ ein Lächeln erkennen. »Wie
recht Sie da haben!«
»Aber jetzt«, so fuhr Brobeil fort, »jetzt
will ich Ihnen erklären, wie die neuesten Eingriffe in die Schöpfung aussehen.
Die sind so unglaublich, dass keiner, der davon weiß, für voll genommen wird.«
38
Die Autos fuhren alle mit Licht. Als Häberle und Linkohr die B 28
erreichten, die Reutlingen und Bad Urach mit Blaubeuren verband, da gingen sie
noch einmal alle Merkwürdigkeiten dieses Falles durch. Häberle, der jetzt mit
dem Mercedes die Steige abwärts nach Blaubeuren hinter einem
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