Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
als die Qual und das Leid in ihm hochstieg. Da wusste ich zum ersten Mal, dass er...dass er nicht mehr leben wollte...dass es zu viel war...dass er...“
Sie brach ab und schwieg.
„Und es waren immer noch vier Tage bis zur Urteilsverkündung“, sagte ich leise.
„Ja, noch vier Tage“ flüsterte Grace. „Michael aß nichts. Wir mussten ihn irgendwann zwingen. Und die Angst stieg. Die Angst stieg. Wir konnten es sehen. Wir konnten es fühlen. Die Tage wurden immer beklommener, immer enger. Die Zeit stand still und raste gleichzeitig vorbei. Einerseits war diese Ungewissheit unerträglich, andererseits ahnten wir, wie gering unsere Chancen waren und wir versuchten, jede Minute festzuhalten. Es war eine gespenstische Stimmung. Michael war in diesen Tagen kein Mensch mehr. Er war ein Nervenbündel, er war eine offene Wunde. Er telefonierte jeden Tag mit der Co-Anwältin Susan Yu und Mesereau kam oft vorbei.
Drei Tage vor der Urteilsverkündung fragte Michael ihn plötzlich, was genau passieren würde, wenn er schuldig gesprochen werden würde. Er wollte wissen, wie das dann im Gerichtssaal ablaufen würde. Niemals zuvor hatte er diese Frage gestellt. Wir wollten uns nicht damit befassen…aber…dann…dann erfuhren wir, dass Sneddon eine Party gegeben hatte. Dass er mit Champagner auf Michaels sichere Verurteilung angestoßen hatte. Uns war klar: Dieser Prozess war eine einzige Unfairness, eine Hinrichtung. Wir konnten nicht auf Gerechtigkeit hoffen. Wir konnten nicht darauf vertrauen, dass die Jury unbeeinflusst war. Und wir wussten: Ein einziger Anklagepunkt würde ihm schon zwanzig Jahre Haft bescheren.
Sneddon feierte. Michael starb vor Angst. Und nun wollte er wissen, wie sie nach einem Schuldspruch mit ihm verfahren würden.”
Graces Gesicht war aschfahl.
„Mesereau war sehr direkt und Michael war ihm dankbar dafür. Er sagte, dass die Gerichtsdiener während der Urteilsverkündung direkt neben ihm stehen würden und…wenn es so wäre… wenn er schuldig gesprochen werden würde, dann würden ihn die Beamten in Bruchteilen von Sekunden hochreißen und wegschleppen. Er würde innerhalb von weniger als einer Minute in einen bereitgestellten Panzerwagen gezerrt und sofort in das Hochsicherheitsgefängnis gefahren werden.“
Mir blieb das Herz stehen.
„Grace, das bedeutet, er hätte seine Kinder nicht mehr gesehen? Er hätte nicht nach Hause und sich von ihnen verabschieden können?“
„Nein, nicht mehr gesehen. Nein, nicht nach Hause. Es musste so laufen, wegen der Presse, wegen der Fluchtgefahr… Michael brach fast zusammen, als er das hörte.“
Ich spürte einen Draht in meiner Kehle. Einen Stein auf der Brust. Grace hatte die Augen geschlossen, als sie fortfuhr:
„Das war die Zeit, in der die Kinder einiges mitbekamen. Michael war jede Minute bei ihnen, aber er weinte viel, er drückte sie fest, er wich ihnen nicht mehr von der Seite. Er ging nachts von einem Zimmer ins andere, nur um die Kinder schlafen zu sehen. Er streichelte ihre Wangen, er küsste sie sanft, damit sie nicht aufwachten. Und er betete. Gott war seine einzige Hoffnung…seine einzige Hoffnung… aber da dieses ganze Desaster eine gesteuerte Inszenierung war, wussten wir nicht...ich meine… es war schwer zu glauben, dass die Grand Jury…diese zwölf Menschen…über Michaels Schicksal...positiv entscheiden würden.“ Graces Stimme war leiser und leiser geworden. Dann brach sie ab.
Lange Zeit fiel kein Wort, bis sich Grace wieder einigermaßen fasste:
„Das Schlimme war, dass wir alle wussten, dass es noch etwas Größeres gab, das Michael vernichten wollte. Etwas, worauf wir keinen Einfluss hatten. Etwas Unberechenbares. Seit dem Tag der Abschlussplädoyers wurde Neverland von Polizeiwägen belagert, jeder Ausgang, jeder Eingang, und am Himmel kreisten die Hubschrauber. Michael war umzingelt im wahrsten Sinne des Wortes.“
Sie berichtete, wie er in den letzten zwei Tagen fast wahnsinnig geworden war vor Angst und Druck und Stress. Wieder war ein Zettel gefunden worden – auf Blankets Kinderbettchen. Ein Zettel, auf dem mit Michaels Handschrift stand:
„Wir haben dich. Du hast keine Chance. Du hattest nie eine.”
„Am Morgen des 13. 06. war Michael ein Wrack. Er spürte, dass der Anruf kam, er wusste es. Er versuchte zu meditieren, aber er blieb dennoch ein Wrack. Er bestand aus frei gelegten Nervensträngen. Wir schickten nach seinem Arzt, damit der ihm was spritzte. Der gab ihm was, aber es durfte nicht
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