Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
sind.
Michael hatte Bashir vertrauensselig die Hand gereicht, um sich, wie versprochen, hochziehen zu lassen, aber Bashir hatte ihm stattdessen auf die Hand getreten und ihm einen brutalen Tritt versetzt, der ihn in den Abgrund beförderte.
***
Erschüttert saß ich nach der Doku vor dem Rechner. Was für eine Katastrophe musste das für Michael gewesen sein!
Unsere Unterhaltung von neulich kam mir in den Sinn. Meine Aufforderung, sich zu öffnen, sein Leben aufzudröseln…ächzend schlug ich mir die Hand an die Stirn.
„Oh, mein Gott“, dachte ich. „Wie hatte ich nur erwarten können, dass Michael jemals auch nur einem einzigen Menschen wieder sein Innenleben zeigen wollte? Bashir war ja nicht der Einzige, der sein Vertrauen missbraucht hatte! Doch der hatte es weltweit getan. Er hatte in großem Stil Michaels Vernichtung, seinen Kreuzweg und die Kreuzigung selbst eingeleitet.
Denn direkte Folge dieser Doku wurde der zweite Prozess wegen Kindesbelästigung im Jahre 2003. Der Prozess mit dem größten Medienauflauf aller Zeiten. Ein Prozess, den es in dieser Größe, in den Vereinigten Staaten noch nie gegeben hatte. Noch nicht einmal bei einem Massenmörder. Auch nicht bei O.J. Simpson. Allerdings war das auch ein Hinweis auf Michaels Größe. Wäre er wirklich ein so armseliger Wicht gewesen, wie ihn die Medien permanent hinzustellen versuchten, wäre er gerade mal ein kleines Provinzgerichtsverfahren wert gewesen. Aber in seinem Fall wurde eine so gigantische Szenerie aufgewendet, die einen überproportionalen zeitlichen, personellen und kommerziellen Aufwand nach sich zog.
Es folgte Schlag auf Schlag:
Ein zweites Durchsuchen seiner Ranch, Verwüstung im Namen eines zweifelhaften Gesetzes. Negativschlagzeilen ohne Ende.
Michael verlor sein Neverland. Er verlor es in jeder Hinsicht. Es gab kein Peter-Pan-Land mehr. Er konnte all die magischen Plätze nicht mehr aufsuchen, musste sie der Verwilderung überlassen. Er war gesellschaftlich, karrieremäßig, finanziell und psychisch ruiniert.
Meine Kehle schnürte sich zu. Oh, mein Gott, dachte ich, wie musste ihm nur zumute gewesen sein?
Lange saß ich vor dem Laptop. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, bis auf einen: „Alles im Leben kommt zurück. Das Leben ist gerecht. Und ich wünsche allen Beteiligten von ganzem Herzen Gerechtigkeit. Noch mehr wünschte ich, ihr hättet die Einsicht und Gelegenheit, es wieder gut zu machen.”
Tief schnaufte ich durch, klappte abrupt den Rechner zu, zog mir einen Pulli an und lief in den dunklen Park. Ich musste mir den Kopf freilaufen.
Abgesehen von Bashirs unfairem Verhalten, gab es so einige ungereimte Dinge, die mich beschäftigten.
Wie war es möglich, dass eine solche Dokumentation ausgestrahlt wurde? Bei einem Weltstar wie Michael? Bei jemandem, der eine komplette Public-Relation-Abteilung beschäftigte? Normalerweise braucht die Endfassung von egal was eine schriftliche Freigabe. Wie konnte so was passieren? Wo waren seine Berater gewesen?
So viele schwache Charaktere wurden in unserer Gesellschaft vermarktet und in Szene gesetzt, obwohl oft wenig Talent und Persönlichkeit dahinter steht. Und hier...hier war ernstgemeintes, jahrzehntelanges, soziales Engagement vorhanden plus echtes Talent...und niemand war in der Lage, das zu nutzen?
Das allein war seltsam. Und nicht nur das:
Die Szene, in der Bashir Michael nach seinem Vater fragte, nach den Schlägen, dem Verlust seiner Kindheit. Michael reagiert, als ob ihm diese Frage noch nie vorher gestellt worden sei, reagiert sogar noch stärker als bei Oprah. Überhaupt hatte er zehn Jahre zuvor bei ihr viel professioneller gewirkt als hier mit Bashir. Was war dazwischen passiert?
Und seltsamerweise empfand ich die Rechtfertigung seiner Baby-hängt- über- dem- Balkon- Eskapade wie eine Schlüsselszene:
Superfahrig, übernervös und zittrig sitzt Michael mit Bashir im Berliner Hotel Adlon im Hotelzimmer. Er ist entsetzt, fühlt sich gedemütigt. Die Berliner Polizei und das Jugendamt haben ihn verhört und verwarnt. Er hält das Baby im Arm, ein Fläschchen in der Hand. Das Gesicht des Babys ist verhüllt mit einem grünen Gazeschleier. Michaels Beine, auf denen der kleine Blanket liegt, wippen in rasantem Stakkato auf und ab, auf und ab, auf und ab, und die unglaubliche Nervosität Michaels überträgt sich auf das Kind. Es fängt an zu schreien. Michael schiebt ihm die Flasche zwischen die Kiefer, das Baby beruhigt sich einigermaßen, im
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