Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
damit auch seine Brüder.
Mehr denn je verehrte er seine Mutter, die für ihn Werte wie Treue, Ehrlichkeit und Liebe nicht nur predigte, sondern sie auch lebte. Er brauchte etwas, an das er glauben konnte. Katherine war rein. Sie war sanft, sie war liebevoll, ihr Herz strömte über, wenn sie ihre Kinder nach dem harten Wochenende wiedersah. Michael schwelgte in dieser Herzensenergie und spürte dann eine rätselhafte und so intensive Sehnsucht, dass er gleichzeitig hätte weinen mögen.
An dieser Stelle stoppte Michael mit seiner Erzählung. Er stoppte abrupt und als er nach einigen Minuten noch immer reglos verharrte, sah ich ihn an.
„Michael?“
Er schwieg.
„Schluss für heute?“, fragte ich ihn, so sanft ich nur konnte. Er hatte nun drei Stunden lang erzählt - und mein Herz schwer war von all den Eindrücken.
Doch der Ausdruck in seinen Augen trieb eine heftige Gänsehaut über meinen gesamten Körper, so stark, dass mein Hirn einige Zeit brauchte, um zu verstehen, warum das so war.
Michael wollte mir etwas erzählen, was er noch nie jemandem erzählt hatte.
Michael wollte mir nicht erzählen, was er noch nie jemandem erzählt hatte. Er stand vor einem schwarzen Loch. Mit seinen Augen forderte er mich auf, ihn zu zwingen.
Und ich zwang ihn.
***
„Ich kann dir noch nicht einmal das Jahr sagen“, wisperte er.
„Egal“, murmelte ich. „Du warst damals für alles zu klein und zu jung.”
Zögernd begann er, stoppte, versuchte es erneut, hielt wieder inne. Immer wieder musste ich ihn auffordern.
„Ich...stand...wie so oft ... hinter ... einem ... Vorhang...“ Wieder bremste er, versuchte, einen Anfang zu finden, begann mit einer Silbe, brach ab.
„Wie sah der Vorhang aus?“, fragte ich. Das spielte an sich keine Rolle, aber die Beschreibung der Details ließ ihn vielleicht leichter in die Geschichte gleiten.
„Er...er war rot...roter Samt, schwer, alt...abgegriffen, goldene, verblichene Kordeln...“
„Nach was roch er?“
„Nach...er roch...komisch... ich weiß nicht nach was, nach Rauch... aber auch soviel anderem....”
„Du warst allein?“
„Ich dachte, ich wäre allein.“
Michael war bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Er beobachtete eine Künstlerin, die auf der Bühne war und ihre Performance ablieferte. Sie war lasziv, aber auf ästhetische Weise. Er mochte ihre rauchige Stimme und wenn sie mit ihren Händen andeutungsweise über ihren Körper fuhr, war da nur ein Hauch von Sex. Fast entzog sie sich dem Publikum mehr, als dass sie sich ihm darbot und Michael faszinierte das. Mit Erstaunen und Erleichterung nahm er wahr, dass die Zuschauer auch darauf reagierten, nicht mit wildem Geschrei, sondern mit Schweigen. Mit so etwas wie Würde. Er sah die Männer schlucken, aber anständig bleiben. Er sah zwar auch hier begehrliches Glitzern in deren Augen, aber es war ein bewunderndes Glitzern, eines, das von Haltung zeugte und ihnen das Aussehen eines Ritters gab, der eine Dame erobern wollte.
„Das“, dachte Michael, „das ist es. Das fühlt sich gut an... das ist grandios! Wie macht sie das?“
In der Pause wartete er vor ihrer Garderobe. Sie scheuchte ihn weg. Mehrmals. Er blieb auf seine schüchterne Weise hartnäckig, bis sie ihn dann doch hereinbat und ihm ihre Kniffe verriet.
Dann kam ihre zweite Aufführung. Wieder stand er im roten Vorhang. Studierte sie, verinnerlichte, was sie ihm gesagt hatte. Sie zwinkerte ihm von der Bühne aus zu und er lächelte selig zurück. Sie war sehr nett und er mochte Menschen, die nett zu ihm waren.
In der Nacht konnte er nicht schlafen. Er stand auf und wanderte umher, kam zurück an den roten Vorhang. Die Bühne war nun dunkel und verlassen, aber Michael sah erneut die Lichter, hörte die Musik, sah die Show. Mit seinen Händen versuchte er die Bewegung nachzumachen, die sie ihm gezeigt hatte. Der rote Samt bewegte sich leicht und Michael spürte plötzlich: Er war nicht allein.
Hektisch drehte er sich um. Ein Bühnenarbeiter stand vor ihm.
„Na, Kleiner? Suchst du nach Ladies?“, lallte er. Er war sturzbesoffen und versperrte Michael den Weg.
„Wo willst’n hin“, hickste er und hielt ihn fest. „Mach mal schön den Mund auf...“
Mit diesen Worten ließ er seine Hose runter und stieß nach vorne. Michael schrie gellend auf. Der Mann erschrak und versuchte, ihm den Mund zuzuhalten.
„Haldi Fffrresse, du...hick... Hurnsohn“, knurrte er und versuchte dem Kleinen, die Kiefer auseinander zu drücken. „Mach dein
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