Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
wenn er ihn sah.
Nach diesen Erlebnissen wurde er schüchtern und verschlossen. Melancholie ergriff von ihm Besitz, die er sein Leben lang nicht mehr loswurde.
Seit dem roten Vorhang fühlte er sich schmutzig und minderwertig. Er sehnte sich nach seiner Mutter, sehnte sich danach, einfach spielen zu dürfen, der Unbeschwertheit in ihm Raum geben zu können, sich in der Welt der Kinder bewegen zu dürfen, mit den Sternen und dem Mond Zwiegespräche zu führen, wie früher. Er sah über die Straße, sah Kinder herumtoben und starke Sehnsucht grub sich in sein Herz. In den Gesichtern dieser spielenden Kinder konnte er Sorglosigkeit entdecken und das Bewusstsein, einfach um ihrer selbst willen geliebt zu sein. Das war das, wonach er sich am meisten verzehrte. Was er so vehement vermisste und nirgendwo in seinem Leben fand.
Aber er wollte auch ein Star werden und liebte die Bühne, denn dort konnte er eine Verbundenheit spüren, die ihm gut tat.
Die Kontradiktion seiner Wünsche ließ ihn verzweifeln. Doch selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, das zu durchschauen - hätte er eine Wahl gehabt?
Von heute auf morgen musste er wie ein Erwachsener denken und fühlen. Sein Herz war überfordert. Sein Kopf war überfordert. Alles, was ihm blieb, war diese Gefühle in seine Lieder zu packen, sie nach außen strömen zu lassen und sie mit anderen zu teilen. Alles, was er tun konnte, war, sich selbst zu versprechen, das Kindliche zu wahren, weil er daraus schöpfte. Auf der Bühne war alles stimmig und rund. Alles, was mit Musik zu tun hatte, war sicherer Boden für ihn. Aber war er außerhalb dieses Rahmens fühlte er sich unsicher – das war die Welt der Erwachsenen, die Welt der Deals und Rassenunterschiede, da schien es plötzlich keine Instanz mehr zu geben, auf die er sich verlassen konnte.
Er versuchte, in dieser Welt zurecht zu kommen. Da er wissbegierig und intelligent war, las er, was er in die Finger kriegen konnte. Er kaufte Unmengen an Büchern und eignete sich mit der Zeit ein Riesenwissen an. Es gab kaum ein Gebiet, über das er nicht Bescheid wusste und über das er nicht reden konnte. Dennoch hatte er immer das Gefühl, alle anderen, die in normalen Schulen groß geworden waren, wüssten mehr als er. Er hatte Angst, sich zu blamieren, wenn er den Mund aufmachte. Und so ließ er ihn lieber zu.
Es passierten mit der Zeit so viele Dinge, die sein Herz nicht verstand. Und dann schaltete sich seine Schutzfunktion ein: Sein Kopf, der ihm sagte, dass er mitspielen müsse, um überleben zu können, er müsse der Beste sein, das sei er seinem Talent schuldig, dann käme auch das Glück.
Aber Michael sinnierte damals schon über den Sinn des Lebens, über den Wert eines Talentes, das mit dem Körper verstarb und wertlos wurde wie das Geld, das man in seinem Leben verdient hatte. Beides konnte man nicht mitnehmen. Er wollte aber etwas Bleibendes, einen positiven Nachhall, etwas, was seiner Existenz Berechtigung und Sinn gab.
Und als er eines Tages mit seiner Mutter vor dem TV-Gerät saß, kam eine Sendung über Afrika, über Kinder, die buchstäblich vor seinen Augen verhungerten, die Dreckslöcher statt Betten hatten und deren Eltern tot neben ihnen lagen. Sie hatten nichts, noch nicht einmal sauberes Wasser. Geschockt sah Michael die Bilder über die Mattscheibe flimmern und fühlte sich auf einmal mittendrin in dem Geschehen. Er spürte das Leid der Kleinen, ihren Hunger. Die Verzweiflung in den riesengroßen Augen war seine Verzweiflung. Er spürte die fetten Fliegen auf dem Kopf und den Druck der unnatürlich geblähten Bäuche. Dieses Elend dockte mühelos an seine eigenen Verletzungen an wie ein starker Magnet und er war mit ihnen verbunden, als sei er eines von ihnen. Er konnte alles spüren: Ihren Schmerz, ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Trauer und abgrundtiefen Hunger. Sturzbäche von Tränen flossen seine Wangen hinunter und er schwor sich, schwor sich mit aller Entschlossenheit, gegen diese Not anzukämpfen, solange er lebte. Lieber Gott, betete er, lass mich etwas dagegen tun... ich weiß nun, warum ich singen und tanzen kann... ich werde etwas dagegen tun.
Seit diesem Tag spürte er die totale Verpflichtung, seine Talente für etwas Gutes einzusetzen, nie einem anderen Menschen willentlich weh zu tun.
Und dann war da sein Vater, der sagte, er müsse das Beste auf der Bühne geben und er dürfe seine Fans nie enttäuschen. Seine Mutter, die ihm sagte, er müsse den Gesetzen Gottes gehorchen. Er
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