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TS 30: Die Söhne der Erde

TS 30: Die Söhne der Erde

Titel: TS 30: Die Söhne der Erde
Autoren: Poul Anderson
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Närrin“, sagte Magnus.
    Wortlos schloß sie die Tür, hing ihren Mantel an einem Haken auf und drehte sich um. Magnus Ryerson saß in seinem alten Lehnstuhl mit einem zerlesenen, in Leder gebundenen Buch in der Hand. Wie immer, wie immer! Wie sollte man in dieser Höhle einen Tag von dem anderen unterscheiden? Die Leuchtkugel verbreitete nur gedämpftes Licht, so daß seine Gestalt im Schatten lag. Nur der eisige Blitz aus seinen Augen und der schmutzige weiße Wasserfall seines Bartes bildeten helle Punkte. Ein Torffeuer im Kamin spuckte verloren und versuchte, einen Teekessel zu erwärmen.
    Ryerson senkte das Buch auf seinen Schoß, klopfte seine archaische Pfeife aus und fragte schroff: „Wo bist du den ganzen Tag gewesen, Mädchen? Ich wollte schon nach dir suchen gehen. Du konntest dir einen Knöchel verstauchen, und das kann dir dort draußen in der Kälte den Tod bringen.“
    „Ich habe es aber nicht getan.“ Sie zog ihre Stiefel aus und schlüpfte in Sandalen. Dann schickte sie sich an, in die Küche zu gehen.
    „Warte“, sagte Magnus. „Wirst du es nie lernen? Ich möchte meinen Tee genau um halb fünf. Du mußt vorsichtiger sein, Mädchen. Du trägst den letzten der Ryerson.“
    Tamara blieb stehen. Sie spürte, wie ihre ausgekühlte Haut, die unter der Wärme zu prickeln begonnen hatte, wieder gefühllos wurde.
    „Außer David“, entgegnete sie.
    „Wenn er noch lebt. Glaubst du das immer noch, nach all diesen Wochen.“ Magnus begann seine Pfeife auszukratzen. Er sah sie nicht an.
    „Ich glaube nicht, daß er tot ist. Ich kann es nicht glauben.“
    „Der Mondstation ist es nicht gelungen, Kontakt herzustellen“, erinnerte er sie. „Selbst wenn er noch am Leben ist, wird er an Altersschwäche gestorben sein, wenn das Schiff endlich einen Planeten erreicht, auf dem wir einen Außenposten haben. Nein, vorher wird er verhungern.“
    „Wenn das Schiff irgendwie zu Schaden gekommen ist, und er ihn reparieren kann …“
    Das gedämpfte Trommeln der Brecher draußen am Strand wurde plötzlich sehr laut. Magnus preßte einen Augenblick die Lippen fest zusammen. Dann sagte er: „Das ist auch eine Art, sich selbst zu zerstören – durch Hoffen. Du mußt dich mit dem Schlimmsten abfinden, denn davon gibt es in der Welt immer mehr als von dem Besten.“
    Sie blickte auf das schwarze Buch, das er Bibel nannte. „Sagt das eure Heilige Schrift?“ Die Stimme war die einer Fremden.
    „Jawohl, ebenso das zweite Gesetz der Thermodynamik.“ Magnus klopfte mit seiner Pfeife gegen den Aschenbecher.
    „Und du … und du erlaubst mir nicht mal, sein Bild aufzuhängen“, flüsterte sie.
    „Es ist im Album zusammen mit meinen anderen toten Söhnen. Ich will es nicht an der Wand haben, damit du davor flennen kannst. Wir haben zu nehmen, was Gott uns schickt, und trotzdem mit beiden Füßen auf der Erde zu bleiben.“
    „Weißt du …“ In Tamaras Augen lag ein Ausdruck wachsenden Entsetzens. „Weißt du, daß ich mich gar nicht mehr erinnern kann, wie er aussah?“
    Sie sprach in der undeutlichen Hoffnung, ihn in Wut zu versetzen, aber die breiten Schultern unter dem schäbigen Pullover zuckten nur. „Ja, das kommt oft vor. Du entsinnst dich der Worte: blondes Haar, blaue Augen und so weiter, aber sie geben kein wirkliches Bild. Na ja, schließlich hast du ihn auch nicht lange gekannt.“
    Das soll also heißen, ich bin eine Fremde, dachte sie. Ein Eindringling, der gestohlen hat, was ihm nicht gehört.
    „Wir haben noch Zeit für ein wenig englische Grammatik vor dem Tee“, sagte er. „Du warst das letzte Mal fürchterlich mit deinen unregelmäßigen Verben.“
    Er legte sein Buch auf den Tisch – sie konnte den Titel lesen: Kiplings Gedichte, wer immer Kipling war – und zeigte auf ein Regal. „Hol das Buch und setz’ dich.“
    Etwas in ihr flammte auf. Sie ballte die Fäuste. „Nein!“
    „Wie?“ Das lederhäutige Gesicht wandte sich ihr fragend zu.
    „Ich werde nicht mehr länger Englisch lernen.“
    „Nein …?“ Magnus musterte sie, als wäre sie ein Spezimen von einem anderen Planeten. „Ist dir nicht gut?“
    Sie spuckte die Worte aus, eines nach dem anderen. „Ich kenne bessere Möglichkeiten, meine Zeit zu verbringen, als mit dem Lernen einer toten Sprache.“
    „Tot?“ rief der alte Mann. „Die Sprache von fünfzig Millionen!“
    „Fünfzig Millionen nichtswissender Provinzler, die zwischen ausgebombten Städten ihr Leben fristen. Außerhalb der Britischen Inseln oder den
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