TS 44: Die Milliardenstadt
Aussage seiner Mutter die Wand ihres gemeinsamen Wohnraums eingeschlagen, woraufhin die Frischluft in solchen Strömen entwich, daß schließlich keine mehr nachkam. Die Frau behauptete außerdem, daß der Junge in den Mauerbruch hineingekrochen und seitdem nicht mehr gesehen worden sei. Niemand glaubte ihr, besonders Trond-Trond nicht, der in dieser Sache das letzte Wort zu sprechen hatte.
Als ich dich damals im Silo gesehen hatte, dachte ich mir, daß du der Junge sein könntest, von dem die Rede war. Du trugst ein Gerät bei dir, wie man es in der Stadt noch niemals gesehen hatte. All die Jahre über habe ich darüber nachgedacht, wo du es gefunden haben könntest. Es gab keine Erklärung – nicht, wenn man nicht den Mut aufbrachte, eine zweite Wand zu zertrümmern und hineinzukriechen. Ich war nicht so mutig wie du, und sicherlich hätte ich niemals fünfzehn Jahre der Einsamkeit ertragen. Aber ich dachte mir, daß es außer dem leuchtenden Stab noch mehr wunderbare Dinge dort geben würde, wo du dich versteckt hieltest. Ich begann daran zu glauben, daß ich dich eines Tages wiedersehen würde – und hier stehst du vor mir.“
„Ja“, antwortete Egan-Egan. „Aber ich möchte nicht ewig so stehenbleiben.“
„Ich denke es mir. Du willst hinaus, nicht wahr?“
„Ja.“
Elf-Elf lachte leise vor sich hin.
„Was hast du doch für ein Glück, mein Junge. Weißt du, daß nur der Koordinator eins oder ein noch höherer Beamter diese Tür öffnen kann?“
„Das ist schon bei der ersten Pforte so!“ antwortete Egan-Egan.
„Sicherlich. Aber von allem Anfang an wußten ein paar Leute in der Stadt, daß die erste Pforte einen geheimen Mechanismus besitzt. In den ersten Jahren sind ein paar Menschen durch die Pfortenreihe geflohen. Bis der damalige Koordinator eins auch diese letzte Tür mit einem besonderen Öffnungsmechanismus versah, von dem niemand außer ihm etwas wußte. Das Geheimnis blieb gewahrt, wie du siehst.“
Egan-Egan wollte etwas sagen; aber Elf-Elf hob die Hand.
„Ich weiß, was du meinst. Du wirst mich nicht zwingen müssen; ich will dir die Tür freiwillig öffnen!“
„Du willst …?!“
Elf-Elf nickte.
„Ja. Du könntest mich ohnehin dazu zwingen, nicht wahr? Die Lampe ist nicht mehr deine einzige Waffe?
Aber das ist nicht eigentlich der Grund. Ich meine …“, er zögerte und schien nach Worten zu suchen, „… du könntest vielleicht der Bote einer neuen Zeit sein. Ja, das meine ich, und deswegen will ich dich hinauslassen.“
Egan-Egan staunte.
„Das meinst du – ausgerechnet du, der Koordinator eins?!“
Elf-Elf nickte ernst.
„Man redet mich mit ,Besonders Erkenntnisreicher’ an. Glaubst du nicht, daß zu einer besonderen Erkenntnis die Einsicht gehört, daß die Goldene Regel eine Sammlung dummer Sprüche ist – nur dazu geschaffen, die Menschen der vierten Kaste in dieser Stadt zu halten und ihnen einzureden, daß sie auf eine andere Art nicht leben können?“
„Ich weiß es“, antwortete Egan-Egan in dumpfem Erstaunen. „Aber woher weißt du es?“
„Ich weiß nicht; aber ich kann nachdenken.“
Elf-Elf wandte sich um. Im Widerschein der Lampe sah Egan-Egan ihn von rechts oben nach links unten mit der rechten Hand über die Tür streichen.
„Ich verstehe nicht“, sagte er dabei, „wie der Mechanismus aussieht, den meine Hand in Bewegung setzt; ich weiß nur, auf welcher Linie ich meine Hand zu bewegen habe. Da, siehst du!“
Die Tür rollte zur Seite. Helles Licht flutete herein. Verblüfft sah Egan-Egan, daß es nicht die unerträgliche, blauweiße Grelle besaß, die die Straßen und Räume der Stadt erfüllte, sondern ebenso wohltuend gelb war wie das Licht in der Halle.
Hinter der Tür, im Schein des gelben Lichtes, lag ein saalähnlicher Raum. Die Wände bedeckten Türen unterschiedlicher Größe. Neben jeder Tür in die Wand eingelassen war eine kleine Metallplatte mit einem Lichtknopf.
„Die Aufzüge!“ sagte Elf-Elf und machte eine Handbewegung.
Egan-Egan trat an ihm vorbei in den Saal hinein. Er wußte, daß die Lichtknöpfe dazu dienten, die Liftkabinen von der Erdoberfläche herunterzuholen, wenn sie sich dort befanden, oder die Lifttüren zu öffnen, wenn die Kabinen dahinterstanden.
Er entschied sich für eine der kleineren Türen. Er hob die Hand und legte die Spitze des Zeigefingers auf den rotleuchtenden Knopf, Bevor er drückte, sah er sich um.
Elf-Elf war aus dem Gang herausgekommen. Er stand vier Meter hinter ihm und
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