TS 72: Das Erbe von Hiroshima
jeder Bewegung unfähig, bis der aufstrebende Ring die Oberfläche erreichte.
Ohne das Wunder begreifen zu können, handelte er doch blitzschnell und kurz entschlossen.
Er drehte sich um, legte sich flach auf den Bauch und griff mit beiden Händen in das kalte Wasser. Unter dem schwebenden Ring schlossen sie sich zu einer Schale und kamen langsam hoch.
Der Ring schwamm nun auf dem Wasser, als habe er kein Gewicht.
Er hatte kein Gewicht!
Erst als Lex die Hände, immer noch zur Schale geschlossen, aus dem Wasser zog und sich aufrecht hinsetzte, kehrte das Gewicht plötzlich zurück. Schnell sank er die wenigen Zentimeter hinab und blieb auf der Handfläche liegen.
Lex fühlte sein Gewicht.
Es geschah in der gleichen Sekunde, in der Ann einen erstaunten Ruf ausstieß und sich vorbeugte. Ihre Augen hatten die Starre verloren und ihr Verstand arbeitete wieder normal. Das heiße Sehnen wurde zur ungläubigen Verwunderung.
„Der Ring!“ keuchte sie. „Er ist aus der Tiefe gestiegen.“
Lex ließ das Wasser ablaufen, nahm den Ring, betrachtete ihn mit scheuen Blicken und legte ihn dann auf den Felsen, genau zwischen sich und Ann. Dann sah er sie an.
„Wie ist das möglich?“ fragte er mit spröder Stimme.
Sie nahm den Ring auf und hielt ihn dicht vor ihre Augen. Es war unzweifelhaft der gleiche Ring, der vor wenigen Minuten ins Wasser gefallen und versunken war. Obwohl schwerer als Wasser, war er nun wieder an die Oberfläche gestiegen.
Eine Unmöglichkeit.
Mit einem ungewissen Lächeln streifte sie ihn auf den Finger.
„Gott hat meine Bitte erhört“, antwortete sie leise.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage, Ann. Du hast etwas gemacht, das den Ring gegen alle Naturgesetze handeln ließ.“
„Ich weiß doch nicht, warum es geschah, Lex. Ich habe darum gebetet, daß der Ring zu mir zurückkehren möge – und er kehrte zurück. Ich will überhaupt nicht wissen, warum er es tat, wichtig ist nur, daß ich ihn wiederhabe. Warum fragst du nach Dingen, die ich selbst nicht weiß?“
Er schüttelte den Kopf.
„Was hast du getan, dieses Wunder Wirklichkeit werden zu lassen? Hast du nur gebetet?“
„Quäle mich doch nicht so, Lex, bitte nicht. Ich weiß es nicht. Ich habe nichts getan. Nur gebetet.“
„Mit Beten allein …“, begann Lex, aber dann schwieg er.
Er schwieg sehr plötzlich und verdutzt.
Ein ungeheuerlicher Verdacht stieg in ihm auf, aber er wagte es jetzt nicht, ihn auszusprechen. Vielleicht wußte Ann nicht einmal davon.
Er beschloß, mit ihrem Vater darüber zu reden.
„Vielleicht wollte Gott uns ein Wunder zeigen“, flüsterte Ann und legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie spürte, daß er zitterte, als fröre ihn. „Ein Wunder, um uns zu zeigen, daß er uns helfen wird.“
„Es gibt keine Wunder, die sich nicht erklären lassen“, lehnte Lex diese Auslegung rundweg ab. „Jedes sogenannte Wunder findet bei näherer Untersuchung seine Erklärung. Hier aber kann es keine Erklärung geben. Bist du dir darüber klar, daß allein dein Wille, den Ring wieder zu besitzen, seine Schwerkraft aufgehoben und ihn zurückgebracht hat?“
„Wieso Schwerkraft?“
„Ich kann dir das jetzt nicht auseinandersetzen, es wäre zu kompliziert. Wir werden später darüber sprechen. Bitte, laß uns nun gehen und den Vorfall vergessen. Ich werde verrückt, wenn ich weiter darüber nachdenke.“
*
Erst Stunden später begann Ann zu begreifen, was geschehen war, und erst jetzt regte sich in ihr das Verlangen, eine Erklärung dafür zu finden. Doch Lex verstand es immer wieder, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Er wollte sie nicht beunruhigen. Außerdem ließ sich ohne gründliche Nachforschung in Anns Vergangenheit nichts Bestimmtes sagen.
Lex fuhr später fast schweigsam. Seine Augen waren auf die Fahrbahn gerichtet, als erwarteten sie jeden Augenblick ein Hindernis, das plötzlich aus dem Nichts auftauchen könnte. Ann saß neben ihm, dicht an ihn geschmiegt und ihn dabei hin und wieder mit liebevollen Blicken betrachtend. In ihren Augen war eine glückselige Zärtlichkeit, die er mehr fühlte denn sah. Er spürte förmlich, wie ihre Augen ihn streichelten, und er wußte, daß jenes Fremde, das an diesem Vormittag zwischen sie getreten war, durch ihre unendliche Liebe langsam wieder verdrängt wurde.
Trotzdem dachte er über dieses Fremde nach.
Unzweifelhaft war noch vor Stunden etwas geschehen, das sich mit natürlichen Maßstäben niemals messen ließ. Jeder, der von
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