TS 72: Das Erbe von Hiroshima
diesem Vorfall erfuhr, würde ungläubig den Kopf schütteln und sie einer Sinnestäuschung bezichtigen.
Und doch hatte er das Unglaubliche selbst erlebt!
Als Schriftsteller war es seine Aufgabe, auch den unerklärlichsten Dingen nachzugehen und ihre Ursache zu erforschen. Sein erster Roman hatte ein historisches Ereignis behandelt; bei den Quellenhinweisen war er auf Schilderungen gestoßen, die ihn den Kopf hatten schütteln lassen. Wie abergläubisch man früher doch gewesen war. Hexenzauber und Gotteswunder standen oft so dicht nebeneinander, daß man sie nicht zu unterscheiden wußte. Natürlich ließen sich derartige Schilderungen damit erklären, daß damals die Berichterstattung ungenau und unzuverlässig sein mußte, da das geschriebene Wort eine Seltenheit war. Von Mund zu Mund getragen, ändern sich die Tatsachen, werden verstümmelt oder gar umgewandelt. Was dann am Schluß herauskommt, ist etwas ganz anderes als die ursprüngliche Schilderung des ersten Augenzeugen.
Doch auf einmal erschienen nun Lex diese Wundermärchen in einem ganz anderen Licht. Hatte er nicht selbst heute ein solches Wunder geschaut? Und würde ihm jemand dieses Wunder jemals glauben?
Nagender Zweifel fraß an seinem Herzen. Sein nüchterner Verstand suchte nach der Erklärung, aber er fand sie nicht. Vielleicht sollte er da ansetzen, wo andere Menschen ihre Nachforschungen mit einem kategorischen „Das gibt es eben nicht!“ beendeten.
Er entsann sich jener Forscher, die sich mit noch unentdeckten Funktionen des menschlichen Gehirns befaßten. Parapsychologie hieß es wohl, dieses große, neue und heiß umstrittene Wissensgebiet.
Er hatte nicht viel darüber gelesen, nur gelegentlich einen kurzen Artikel oder eine Abhandlung in wissenschaftlichen Zeitschriften. Trotzdem verspürte er immer einen unbewußten Unwillen darüber, daß der Laie in seinen Entgegnungen die Parapsychologie mit der Astrologie in einen Topf zu werfen und damit lächerlich zu machen versuchte. Lex hielt die Theorie, daß nur ein geringer Prozentsatz des menschlichen Gehirns voll aktionsfähig sei, für absolut wahrscheinlich. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund.
Der Mensch der Urzeit besaß nachweisbar eine wesentlich geringere Intelligenz als der heutige Mensch. Die Gehirnmasse jedoch war annähernd die gleiche geblieben. Woher also stammte die zusätzliche Denkfähigkeit? Sie mußte doch schon damals vorhanden gewesen sein und hatte lediglich brachgelegen. Erst die Weiterentwicklung hatte die einzelnen Regionen langsam und nur sehr zögernd aufbrechen und tätig werden lassen. Jeder logisch denkende Mensch mußte sich also fragen: sollte diese Fortentwicklung mit dem heutigen Tag zu Ende sein?
Lex verneinte diese Frage, und er verneinte sie sehr überzeugt. Die fortschreitende Technik würde immer höhere Anforderungen an das menschliche Hirn stellen, und es würde diesen Anforderungen gewachsen sein müssen, sollte es nicht mit der Menschheit zu Ende gehen. Bisher jedoch hatte die Natur es immer verstanden, den Menschen seiner Umgebung anzupassen, ihn intelligenter werden zu lassen, wenn es notwendig schien. Also mußten mit der Zeit auch die schlummernden Fähigkeiten erwachen, aktiv werden und in das Geschehen eingreifen.
Ab und zu geschah das.
Es geschah aber nur sehr vereinzelt und zumeist unerkannt.
Jemand träumte und erlebte im Unterbewußtsein ein Ereignis, das sich erst Tage oder Wochen später abspielte. Er sah in die Zukunft, ohne es zu wissen. Und später, wenn dieses Traumerlebnis Wirklichkeit wurde, hielt er es für einen merkwürdigen Zufall. Nie hätte er sich getraut, von seinem Erlebnis ernsthaft zu berichten.
Oder ein anderer empfängt mit Hilfe eines nur halb schlummernden Sektors seines Gehirns die Gedanken eines ihm nahestehenden Menschen. Oft über große Entfernungen und mit verblüffender Deutlichkeit. Er vermag sogar zu „sehen“, was der andere in diesem Augenblick tut. Oder sie sprechen miteinander und stutzen nur oberflächlich, wenn beide in der gleichen Sekunde genau das gleiche denken und sagen.
Fast unbewußt, als wolle er sich seiner Schweigsamkeit wegen entschuldigen, nahm Lex die rechte Hand vom Steuer und streichelte Anns Haar. Für ein oder zwei Sekunden sah er in ihre Augen und erkannte in ihnen das unendliche Vertrauen und die grenzenlose Liebe. Dann aber kehrten seine Gedanken zurück zu dem, was ihn so sehr beschäftigte.
Es gab Telepathie, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber sie wurde von
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