TS 99: Exil auf Centaurus
planen.
Jetzt brauchte er schnellstens Unterschlupf – nicht nur für kurze Zeit, sondern für Tage. Jetzt war er wieder nahe daran aufzugeben.
Der Schutz bot sich ihm von selbst an. Er kam zu einem düsteren, winzigen abfallüberladenen Hof. Einige Stufen führten hinauf zu einer teilweise offenstehenden Tür. Darüber stand in matten Lettern:
„Mrs. Lemmon’s Teashop. Konditorei.“
Auf den schmutzigen Holzstufen, einen Teller Milch für die hungrige Katze abstellend, stand eine ältliche Frau und riß die Augen auf. Sie starrte auf diese Erscheinung, die von einem anderen Universum kommen mußte, und wußte nicht, wie sie reagieren sollte.
„Du lieber Himmel!“ rief sie aus. „Was ist? Was geht da vor?“
Michael Wireman sah keine andere Möglichkeit, als ihr die Wahrheit zu sagen. Würde er sich als feindlicher Soldat ausgeben, so hätte sie ihn nach wenigen Minuten durchschaut.
„Ich bin ein freier Erdenbürger“, keuchte er. „Aus dem feindlichen Hauptquartier entflohen!“
„Freier Erdenbürger! Ein Rebell !“Ihre Züge drückten Verachtung aus. „Schauen Sie, daß Sie weiterkommen, fort von hier!“
Aber irgend jemand kam bereits hinter ihm her. Michael Wireman konnte das Klappern von Schuhsohlen hören. Im nächsten Augenblick mußte er um die Ecke biegen.
Michael Wireman wollte nach seiner Pistole langen, wurde aber plötzlich schwindelig, konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, den verwundeten Kopf zurückgeworfen, die wäßrigen Augen hoffnungslos auf die Frau gerichtet.
„O Gott! Sie sind ja verletzt!“ schrie sie. „Was hat man Ihnen angetan?“
Michael Wiremans Wangen waren über und über blutig. Hautstellen waren nur dort zu sehen, wo Tränen Furchen hineingewaschen hatten. „Feind – Feind –“ keuchte er. „Verhörten mich – Folterten … Schlugen mich … Brach aus …“
„Sie armer Junge!“ rief die Frau aus. „Diese Brut! Hier – Schnell! Gehen Sie hinein. Verstecken Sie sich im Keller.“ Sie zog ihn hinauf, so gut sie konnte, und schob ihn zur Tür. Michael Wireman stolperte dankbar hinein.
*
Mrs. Lemmon beugte sich aufmerksam über den Teller Milch, zwang sich, nicht auf das aufgeregte Pochen ihres Herzens zu achten. Lockend begann sie die erschrockene Katze zu rufen: „Mutz, Mutz, da komm her! Mutz, Mutz …“Sie seufzte tief auf vor Erleichterung – sie glaubte, das tun zu müssen –, als das Tier hinter der Kiste hervorkam, wo es Schutz gesucht hatte. Der anfängliche Schock war bereits von einer rosigen Vorstellung abgelöst worden. Genauso erging es ihren Heldinnen in den Unterhaltungsromanen.
Sicherlich, diese gewährten hübschen, jungen feindlichen Offizieren Unterschlupf, die von centaurischen Agenten verfolgt wurden. Aber sie war so ausgehungert nach einem Erlebnis, das auch nur die geringste Ähnlichkeit mit diesen Erzählungen hatte, daß sie jetzt aus Angst, eine solche Gelegenheit könnte nie wiederkommen, vollkommen bereit war, das Umgekehrte zu tun. Den Jungen verraten zu haben, hätte ihr einen ruhmvollen Augenblick eingetragen, das ist wahr. Ihn zu beschützen, bedeutete jedoch, ein Verschwörer zu sein, tagelang, ja vielleicht wochenlang! Der Gedanke daran, welche Vergeltung nach diesen Wochen kommen würde, beeinflußte ihre augenblicklichen Entschlüsse überhaupt nicht.
Mrs. Lemmon stand noch immer vorgebeugt, zur leckenden Katze sprechend, als der feindliche Soldat mit schußbereitem Gewehr in den Hof stürmte.
Er gehörte dem MP-Überfallkommando an und war genau nach Plan von einem der verschiedenen strategischen Punkte der Stadt ausgesandt worden. Es ist wahr, seit Jahren schon war nichts vorgefallen, aber dieses Kommando bestand aus zähen, stets streng disziplinierten Veteranen, die nur sehr wenig mit den Erdenbewohnern verkehrten. Dieser Mann war typisch hart, typisch entschlossen. Er wußte, daß es seine Aufgabe war, ohne Rücksicht auf eigene Verluste den Verbrecher aufzuspüren. Mit einem Sprung war er mitten im Hof, duckte sich, hob das Gewehr, bereit auf den ersten Menschen zu feuern, der sich bewegte.
Die Katze jaulte auf und lief wieder weg. Entrüstet richtete sich die Frau auf, wodurch sie beinah das Feuer auf sich gezogen hätte. Michael Wireman, in derselben Situation, hätte wahrscheinlich schießen müssen.
Der Soldat warf einen prüfenden Blick in die Runde. Hätte er irgendeinen Grund gehabt anzunehmen, daß sich der Gesuchte hier versteckthielt, oder wäre das im ersten oder
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