Tschoklet
ich kurz reingeschaut, ist ein mächtiger Brocken aus der Kaiserzeit, die Telegrafenkaserne ist so ähnlich. Riesengroß und zugebaut. Laut Informationen von unserem französischen Freund hier ist die Kaiserstraße noch nicht befahrbar, da die Trümmerräumung weiterhin läuft und ständig einsturzgefährdete Gebäude abgerissen werden. Unsinnigerweise haben die Franzosen nach ihrer Ankunft ein paar unversehrte Gebäude absichtlich angezündet, nur um ein kleines Filmchen drehen zu können: ›De Gaulle im brennenden Karlsruhe‹. Unglaublich! Das hätten wir mal in Paris machen sollen! Okay, nächster Punkt. Die bevorstehende Übernachtung. Wir können uns vor den Eingang des zoologischen Gartens stellen. Laut meiner Karte ist auf dem Platz der SA {28} eine große, freie Fläche. Oder die Alternative: wir stellen uns unter Bäume oder in eine Seitenstraße an der Beiertheimer Allee, da sind große Grünflächen, die hoffentlich nicht alle mit Kartoffeln bepflanzt sind. Nach unseren Informationen wurde sogar die komplette Gartenanlage vor dem Karlsruher Schloss zum Gemüseanbau freigegeben. Also, wir schauen uns zuerst den Festplatz an. Wir sollten ein wenig Gas geben, es wird bald dunkel. Zur Orientierung: Die nächste große Querstraße von hier aus ist die Karlstraße, danach kommt die Fritz-Todt-Straße {29} , auf der linken Straßenseite an der Ecke steht das zerstörte Hotel Germania, geradeaus die Markthalle, die sind beide nicht zu übersehen. Dort müssen wir rechts abbiegen. Ach so, ehe ich es vergesse: Die Fritz-Todt-Straße heißt vermutlich inzwischen wieder anders, da die Franzosen diese elenden Umbenennungen der Straßen von den Deutschen scheinbar wieder rückgängig gemacht haben. Dummerweise waren auf Machnauers Stadtplan die alten Namen der umbenannten Straßen nicht vermerkt. Ich weiß nur eines: der Adolf-Hitler-Platz heißt jetzt wieder Marktplatz, so wie früher. Okay, das war’s von meiner Seite. Noch Fragen? Keine? Also gut. Fahren wir!«
Nachdem die Soldaten sich wieder auf die Fahrzeuge verteilt hatten, beschleunigte Vickers, so gut es auf dem holprigen Kopfsteinpflaster ging, bis sie auf dem auch wieder umbenannten Festplatz ankamen. Das komplette Areal war leider mit zahlreichen Baumaschinen, einem Dampfbagger, Hunderttausenden fein säuberlich aufeinander gestapelten Ziegelsteinen und Tonnen von Baumaterial belegt. Das Freigelände war rundherum eingezäunt und durfte nicht betreten werden. Mehrere handbemalte Schilder waren mit kurzen Drahtschlaufen am Zaun befestigt:
DÉFENSE D’ENTRER
–
ZUTRITT VERBOTEN!
Zwei auf dem Platz frei laufende Schäferhunde bellten die Soldaten wütend an.
So fuhr man weiter, am zerstörten Portal des Konzerthauses vorbei, in Richtung Beiertheimer Allee. Schon im vorderen Bereich gegenüber des Rathauses {30} hatten die Anwohner Kohl-, Bohnen-, Salat- oder Zuckerrübenparzellen angelegt.
Auf der von der Allee abzweigenden Mathystraße sahen die Männer auch das erste Mal in Karlsruhe eine Straßenbahn fahren. Die beiden rustikalen Triebwagen mit den wackeligen Stromabnehmern ratterten erst seit dem 30. Mai 1945 wieder klingelnd durch die Straßen, die zahlreichen Fahrgäste in dem hoffnungslos überfüllten Zug verrenkten sich die Köpfe nach den amerikanischen Fahrzeugen.
Nachdem sie die Kreuzung Bahnhofsstraße passiert hatten, fanden sie eine passende Stelle. Zwischen einem ausgebrannten Haus in einer schmalen Sackgasse und einer riesigen Vogelbeerhecke als Sichtschutz zwängten sich die beiden Fahrzeuge nebeneinander und die Mannschaftsdienstgrade bauten gleich das Nachtlager auf. Als die stromlose Dunkelheit der Stadt über die Soldaten hereinbrach, wusste noch keiner, welch katastrophale Ereignisse der nächste Tag bringen würde.
Irgendwo in einem Holzstapel in einem stockfinsteren Hinterhof zirpte eine Grille. Der junge Deserteur war am späten Abend erschöpft und durstig aufgewacht. Er streckte sich und zog vorsichtig seinen viel zu warmen Pullover aus. Dabei machte sich erneut der stechende Schmerz in der Schulter bemerkbar. Da Harrison nichts sehen konnte, tastete er vorsichtig nach dem Verband und fühlte eine leichte Feuchtigkeit, die sich zwischen den Fingern zerreiben ließ. Er roch kurz an seinem Zeigefinger, leckte daran und schmeckte Blut.
Oh nein, nicht schon wieder! Ich muss hier raus.
Der ehemalige Militärpolizist erhob sich mühselig von seinem hölzernen Lager und stolperte blind nach vorn, bis er mit
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