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Tschoklet

Titel: Tschoklet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Pflug
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Hauswände und ballte die Fäuste. Die Ausgangssperre war ihm gleich.
    In einigen Fenstern in der Straße konnte er trüben Kerzenschein erkennen. Auf dem schmiedeeisernen Balkon eines Eckhauses saß ein alter Mann und rauchte Pfeife. Nebenbei unterhielt er sich leise mit einer Person im Inneren der Wohnung, hinter einem zugezogenen Vorhang. Jedes Mal, wenn er an der Pfeife sog, wurde sein hageres Gesicht mit dem weißen Schnauzbart kurz von unten in Orange angeleuchtet. Den feinen Tabakgeruch behielt Harrison noch eine Weile in der Nase.
    RECHTSANWALT
    DR. JUR. KLECKER
    1. ETAGE RECHTS
    FON: 19041
    stand auf einem kleinen weißen Schild an dem Haus, neben der Eingangstür. Herr Doktor belieben auf dem Balkon zu rauchen, dachte er sich und schnupperte noch mal in die Abendluft.
    An einem großen Kreisverkehr mit einer Kirche bog er nach links ab und suchte erneut Schutz in den langen Schatten der Häuser. Wie eine Katze auf Beutejagd kam er sich vor. Der Gedanke an ein Schüsselchen Milch ließ ihn grinsen. Ein Schüsselchen Whisky wäre ihm jetzt lieber. Ein guter, abgelagerter Tennessee von 1910, wie ihn sein Vater im Schrank stehen hatte. Und dazu eine kubanische Trinidad Fundadores. Er schmatzte laut und leckte sich über die trockenen Lippen. Er konnte den Alkohol und die edle Zigarre fast schmecken.
    Verwandle dich in eine Katze, Chuck!
    Er lief wie in Trance, vorbei an endlosen Reihen von gusseisernen Zäunen, Vorgärten, verschnörkelten Eisentoren und massiven Steinpfeilern. Vorbei an einer ausgebrannten Apotheke, einem geschlossenen Friseursalon, einer Damenschneiderei. Wie damals als kleiner Junge ratterte er mit den Fingerspitzen der linken Hand an den Eisenstäben entlang. Ohne es richtig zu merken, stolperte der Verletzte fast diagonal aus der Weinbrennerstraße heraus, quer über den Weinbrennerplatz, auf die Kreuzung der Kriegsstraße, Gartenstraße und Schillerstraße. Da der Mond gerade von einer Wolke verdeckt wurde, war ihm dies nicht aufgefallen. Kaum war er im Schatten des total zerstörten Eckhauses {31} in der Gartenstraße verschwunden, fuhr hinter ihm eine nächtliche Polizeistreife durch die Kriegsstraße und hielt mitten auf der Kreuzung an. Der gleißend helle Kegel eines Suchscheinwerfers flammte auf und tastete alle Straßen und Wege ab. Wie ein großes, rundes Auge in der Nacht. Er drückte sich fest an die Reste der noch vorhandenen Sandsteinmauer und erstarrte in der Bewegung. Der Scheinwerfer hatte nach kurzer Zeit seinen 360-Grad-Schwenk beendet und erlosch urplötzlich wieder. Der Jeep fuhr röhrend weiter.
    Als Harrison den riesigen Komplex der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik {32} an der Lorenzstraße passierte, stolperte er über ein an der Hauswand lehnendes Fahrrad und stürzte damit auf den Fußweg, wobei sich der Lenker in seinen linken Bauchbereich rammte. Unwissentlich zog er sich dabei einen Milzriss zu, den er mangels Schmerz übertragender Nerven innerhalb des Bauchraums nicht bemerkte. Lediglich ein schmerzhafter großer roter Fleck unterhalb der linken Brust zeugte von der schweren Verletzung. Stöhnend und leise fluchend kroch er auf allen vieren in die kleine Parkanlage der im nördlichen Bereich zerstörten Fabrikhallen, die rechte Hand an die linken Rippen gepresst. Zwischen dem hüfthohen Goldregen, der überall wuchs, blieb er erschöpft liegen und dämmerte so bis in den frühen Morgen.

Kapitel 27
     
    Freitag. 1. Juni 1945
     
    Als sich der Nachthimmel von Osten her langsam erhellte, brachte ein erfrischender Regenschauer etwas Abkühlung in die aufgeheizte Trümmerstadt.
    Corporal Roebuck hatte die letzte Wache, bei den Soldaten auch Totenwache genannt, per Streichholz ›gewonnen‹, hockte angelehnt an der noch immer handwarmen Hauswand aus rotem Sandstein und starrte müde und erschöpft auf die Pfütze, die sich gerade vor seinem rechten Stiefel aus ablaufendem Wasser der Zeltbahn bildete. Eine kleine, schwarze Ameise war schon am frühen Morgen unterwegs und kämpfte in den Fluten zappelnd ums Überleben. Er zog lustlos an der aufglimmenden Zigarette und warf sie dann direkt neben das Insekt ins Wasser. Die entkräftete Ameise stieg an dem noch warmen, nach Nikotin stinkenden, plötzlich erschienenen Riesenfloß empor und wartete geduldig auf die trocknende Sonne.
    Mit einem leichten Grinsen im Gesicht erinnerte er sich an den Vorabend, als er im Feuerschein der flackernden Bunsenbrenner auf der offenen Ladefläche des Dodge saß und Christine

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