Tschoklet
Résistance ein, deren Männer oft während der Dunkelheit im besetzten Frankreich Seile über die Straßen gespannt hatten, um die motorisierten deutschen Patrouillen zu behindern. Deren Köpfe oder Oberkörper hatten dann meist mehr oder minder tödliche Bekanntschaft mit dem gespannten Seil gemacht. Motorradfahrer wurden manchmal sogar geköpft.
Vorsichtig und mit wieder einsetzenden großen Schmerzen fing er an, das lange Kabel fast lautlos auf seinem rechten Arm aufzurollen. Immer wieder warf er vorsichtige Blicke zu dem Nachtlager seiner Opfer. Seine Schulter pochte nur noch dumpf.
Die Chancen standen jetzt fifty-fifty. Nur wenn Edwards den Weg über die kleinen Seitenstraßen nähme, würde er der Seilfalle noch entkommen. Andererseits konnte er sich das nicht so richtig vorstellen. Taktisch gesehen, waren breite Straßen auf jeden Fall übersichtlicher. Also entschied sich Harrison, das Hemmnis ein paar Schritte weiter, kurz hinter der Glutschstraße, über die Beiertheimer Allee zu spannen. Daraufhin stieg er vorsichtig auf den Betonsockel einer kaputten Straßenlaterne und band das eine Ende in Kopfhöhe daran fest.
Trotz der wahnsinnigen Tortur mit den Verletzungen gelang es ihm, alles soweit fertig zu stellen. Das Kabel würde zwar auf jeden Fall abreißen, sein Ende aber wie eine gigantische Peitsche Tod und Verderben bringen. Jetzt dürfte allerdings kein Fahrzeug mehr kommen, bis die Scouts sich in Bewegung setzten. Momentan war die Straße wie leer gefegt.
Endstation, Edwards! Entweder du oder einer deiner Leute muss heute und hier dran glauben. Du kriegst mich nicht so schnell!
Heiser kichernd, schleppte sich der Deserteur zurück zum Fahrrad an der Hausmauer. Der Rachedurst hatte ihn endlich wieder stark gemacht! Doch das Kopfsteinpflaster auf der Bahnhofstraße ließ ihn trotzdem vorsichtig fahren. Das Wichtigste war jetzt, nicht mehr zu stürzen.
Als die Straße zu holprig wurde, fuhr er einfach auf dem Fußweg weiter, am Zaun des zerbombten Zoos entlang, bis er vor ein paar eingestürzten Arkaden halten musste. Der direkt vor ihm liegende Bahnhofsplatz war inzwischen einigermaßen bevölkert, da die Sperrzeit bereits wieder aufgehoben war. Die schon wieder oder immer noch funktionierende Uhr in der Bahnhofsfassade zeigte sieben Uhr vierzehn.
Harrison stieg wie in Zeitlupe vom Fahrrad, wieder stach die verletzte Rippe und ließ seinen Herzschlag nach unten sacken. Er schob das Rad langsam und bedächtig, wie ein alter Mann, in Richtung des teilweise zerstörten Bahnhofs. Im Bereich der verwaisten Straßenbahnhaltestelle setzte er sich auf eine gusseiserne Parkbank, streckte die Füße aus und atmete tief durch. Erneut pulste der Schmerz unter der Rippe, wieder drohte sein Kreislauf zusammenzubrechen. Ob das wirklich nur die Rippe war?
Ein älteres Ehepaar mit Rucksäcken und einer prall gefüllten Reisetasche setzte sich neben ihn, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Die beiden unterhielten sich angeregt, eine der Taschen hatten sie vor ihre Füße gestellt. Der verkleidete Amerikaner warf einen verstohlenen Blick in die halb offene Reisetasche neben seinen Schuhen. Sie enthielt in Zeitung gewickeltes Geschirr, Besteck und verschiedene Küchenutensilien. Plötzlich erkannte er zwischen ein paar Suppentellern den hölzernen Griff eines langen Brotmessers. Da die Alten seine Neugier noch nicht bemerkt hatten, bückte sich der Amerikaner, griff flink nach dem Messer, zog es aus der Tasche heraus und steckte es sich mit der Klinge nach oben unter das Hosenbein in die linke Socke. Um die Leute neben sich von dem Diebstahl abzulenken, stieß er den Mann an der Schulter an. »Pardon, können Sie mir sagen, wie spät es ist?« Ohne das Gespräch mit seiner Frau zu unterbrechen, deutete der alte Mann in Richtung der Uhr an der Fassade.
Harrison gab ein gespieltes Lachen von sich. »Danke schön, mein Herr. Ich habe die Uhr da oben gar nicht bemerkt«, log er. Sein Magen knurrte wieder. Vielleicht konnte er sich mit seiner neuen Waffe etwas Essbares beschaffen. Er entschied sich, erst mal hier sitzen zu bleiben und zu warten. Um ihn herum war ein seltsames Treiben. Zigaretten wurden gegen Waren getauscht oder umgekehrt, ein Mann vor ihm erstand für ein Paar Schuhe einen Laib Brot, welcher geschwind in eine Tasche gepackt wurde. Eine Tüte Zwiebeln für sechs Suppenteller, drei Eier für eine Rolle Stopfgarn, zweihundert Gramm Milchpulver für zwei mickrige Blumenkohlköpfe. Ein ständiges Getuschel,
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