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TTB 100: Der Traum der Maschine

TTB 100: Der Traum der Maschine

Titel: TTB 100: Der Traum der Maschine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kneifel
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sie stundenlang im Louvre gestanden hatte. Auch der weite Unterschied zu Nicholas' Konkurrenten, zu seinen malenden Freunden, die nichts anderes taten als die ihnen gemäße Kunstform zu suchen und sie niemals in ihrem Leben finden würden, weil sie Mittelmaß waren.
    Das hier aber war Spitzenklasse.
    Es war vielmehr die Überzeugung, hier Zeugin von etwas gewesen zu sein, das schlechthin einmalig schien. Nicholas hatte, gemalt, ohne voll bei Sinnen gewesen zu sein. Van Gogh war auch halb wahnsinnig gewesen, hatte gemalt, ohne zu wissen, was er tat. Besessen von einem nicht erklärbaren Drang, seine Gedanken und Empfindungen auf die Leinwand zu bringen. Nein – Nicholas durfte nicht auf der schmalen Grenzlinie stehen, die Genie von Wahnsinn trennte.
    »Das ist fabelhaft«, sagte sie, um nicht schweigen zu müssen. Dann fiel ihr ein, wie sie ablenken konnte.
    »Ich kenne noch nicht viele deiner Bilder, aber von denen, die ich kenne, ist das hier das beste.«
    »Meinst du?« fragte er, alles andere als überzeugt.
    »Hundertprozentig«, antwortete sie. »Wenn dein Kunsthändler kommt und wieder einige Bilder mitnimmt, lasse dich nicht übervorteilen. Das Bild ist mindestens tausend Franc wert.«
    »Bringe du das Chevillard bei – das zahlt er nie!« sagte Nicholas und lächelte zweifelnd.
    »Rufe mich an, wenn er kommt.«
    »Gut!« sagte er.
    Claudine kam zurück und widmete sich wieder dem Kaffee und den bestrichenen Broten. Die beiden aßen schweigend und langsam, und Nicholas ging es von Minute zu Minute besser. Endlich ging Claudine. Nicholas brachte sie noch zur Tür.
    »Sehen wir uns heute noch?« fragte sie. Er nickte.
    »Heute abend bei Michel?«
    »Gut«, sagte sie. »Ich werde um neun Uhr dort sein. Halte mir einen Hocker frei, wenn du früher kommen solltest.«
    »Mit Vergnügen«, sagte er. »Herzlichen Dank für alles.«
    Sie lächelte unter den langen Wimpern hervor.
    »Schon gut. Au revoir, Nicholas.«
    Er hob die Hand und streichelte ihre Wange.
    »Au revoir, Claudine.« Die Lifttür rollte auf, und das Gitter schob sich zusammen. Dann glitt der Kasten in die Tiefe. Hinter Nicholas schloß sich die Stahltür des Studios.
    »Mist, verdammter«, sagte er und ging quer durch den Raum, um sein Bild anzusehen. Dann fiel ihm etwas anderes ein; er schaltete das Radio ein. Er sah auf die Uhr, es war neun Uhr morgens.
    »Und was mache ich jetzt?« fragte er sich halblaut. »Ich weiß schon.«
    Er zündete sich eine Zigarette an, öffnete das zweite Fenster und schaffte Durchzug. Frische Luft wehte durch das winkelige Zimmer und wirbelte Staub auf, der in den Sonnenstrahlen tanzte. Nicholas fing im hintersten Winkel der Wohnung an, indem er den überquellenden Papierkorb in eine riesige Einkaufstüte leerte und ihn dann aus dem Fenster entstaubte. Als nächstes kam der Tisch an die Reihe, dann die Bücherborde.
    Zwei Stunden arbeitete der Student mit Lappen, Wasser und Bohnerwachs, dann saugte er sämtliche Stoffe und den Boden mit dem kleinen Staubsauger ab.
    Die kleine Wohnung erstrahlte, und Nicholas sah sich mehr als zufrieden um. Die nächsten drei Monate würde er ohne Putzerei überstehen. Nicholas fühlte sich wieder ziemlich in Form und zog seinen Bademantel aus, stellte sich unter die winzige Dusche und rasierte sich.
    In dem schönen Gefühl, mehr als das Notwendigste getan zu haben, beschloß er, heute zum Essen zu gehen. Eine Stunde später saß er in dem kleinen Lokal an der Ecke Rue Broca und Boulevard du Port Royal und bestellte eine Portion Goldbarsch mit Pommes frites und Mayonnaise. Der gehäufte Teller und das kleine Bier kosteten fast sieben Franc, aber er hatte drei Bilder, die ihm Chevillard abkaufen würde. Außerdem kam in vier Tagen sein Monatswechsel.
    Der Tag verging, während Nicholas seine letzten Skripten durchsah, überflüssige Notizen aussuchte und einzelne Stellen mit der Maschine abschrieb und einheftete. Dann machte er eine lange Serie von Detailzeichnungen für ein Dreifamilienhaus in der Umgebung der Stadt – eine Aufgabe, die er noch vor den Semesterferien abzugeben hatte. Um dreiviertel Neun saß er unten bei Michel. Die Bar war, wie meist um diese Zeit, ziemlich leer; nur acht Leute saßen an den Tischen. An der Theke war kein Gast.
    »Hallo, Künstler«, begrüßte ihn der alte Mann, »wieder einige neue Meisterwerke geschaffen? Was darf's sein?«
    »Espresso, zur Hebung des Blutdrucks«, antwortete Nicholas. »Du scheinst zu glauben, daß ich laufend Kunstwerke

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