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TTB 100: Der Traum der Maschine

TTB 100: Der Traum der Maschine

Titel: TTB 100: Der Traum der Maschine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kneifel
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daran gearbeitet«, entgegnete Nicholas.
    Sie hatten den Boulevard Saint Michel überquert und standen am Osteingang des Jardin. Der fünfeckige Garten war zauberhaft; die dunklen Bäume waren von den Straßenlaternen und den Lichtern vorbeifahrender Autos in wechselndes Licht getaucht. Nicholas und Claudine spazierten eineinhalb Stunden durch den Park, setzten sich an den Rand des Bassins der großen Fontäne und kühlten ihre Füße.
    Sie unterhielten sich über viele Dinge. Aber beide vermieden es, über den Traum des Studenten zu sprechen. Er brachte das Mädchen gegen Mitternacht, als sie den Park verlassen hatten, zur Metrostation und ging dann langsam nach Hause. Unterwegs überfielen ihn die Gedanken.
    Grenelles These konnte nicht stimmen.
    Scheinbar hatte der erregende Traum des letzten Morgens das Gegenteil bewiesen. Nicholas beruhigte sich, indem er sich selbst versicherte, daß nur die erregte Diskussion in der Caverne an der Intensität des Traumes schuld war. Das Bild war einziger Zeuge eines Eindrucks, der bereits restlos verweht war.
    Langsam trat Nicholas aus dem Aufzug und schloß seine Wohnungstür auf. Er machte Licht, holte sich ein Glas Saft aus dem Kühlschrank und zündete sich eine Zigarette an. Er setzte sich so, daß das volle Licht der Architektenlampe auf das Bild in der Staffelei fiel.
    Die einzelnen Gegenstände des Bildes schienen Leben zu gewinnen.
    Nicholas saß reglos da. Seine Gedanken vollführten einen chaotischen Reigen.
    Anhetes?
    War dies sein Name in der Parallelwelt?
    Begriffe und Namen tauchten auf wie Plakatfetzen im Wind, zogen vorüber und wurden wieder vergessen. Sand, rote Sonne und Wüste ... Peitsche eines Aufsehers und ein Boot, das sich über das Wasser bewegte ... wuchtige Mauern?
    Nicholas schüttelte den Kopf, um die Illusion loszuwerden.
    Wieder überwältigte ihn das Entsetzen, als er merkte, daß ihn Eindrücke beherrschten, die ihm fremd waren. Er konnte nichts dagegen tun. Er rauchte hastig weiter; die Asche fiel auf den Boden, und er verbrannte sich die Fingerspitzen. Nicholas warf den Rest der Zigarette zum Fenster hinaus und schaltete das Licht aus.
    Es entstand etwas, das er nicht mehr zu kontrollieren vermochte. Er zog sich im Dunkeln aus, legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, aus dem Teufelskreis seiner Gedanken herauszukommen.
    Vergebens.
    Der Baumeister, von dem er geträumt hatte, entdeckte und schilderte ein für diese Kultur epochales Weltbild. Er lieh Nicholas seine fünf Sinne, damit er miterleben konnte, was dort geschah. Dort ... wo? Träumte auch Anhetes von Nicholas?
    Mitten unter diesen Gedanken legte Nicholas den Kopf zur Seite und wurde schläfrig. Im Halbschlaf zog er die Arme hinter dem Kopf hervor und legte sie auf die Brust. Dann schlief er endgültig ein, wie ein Kind, das Schreckliches träumt. Nicholas aber träumte nicht.
    Nicht in dieser Nacht.
    Auch nicht in der folgenden. Auch die dritte Nacht verging, ohne daß er sich morgens erinnern konnte, etwas geträumt zu haben. Auch trieb ihn nichts zur Arbeit an die Staffelei.
    Die Tage vergingen schnell. Nicholas saß in den Hörsälen der Universität, hörte Vorlesungen und schrieb mit, zeichnete die Pläne seiner Aufgabe ins reine und besprach sie mit einem Kameraden aus einem höheren Semester. Dann gab er sie seinem Dozenten, den er auf einem Gang traf. Er erledigte einige Nachweise auf dem Sekretariat und ließ seine Belegscheine unterschreiben und stempeln.
    Am vierten Abend zog Nicholas – noch schien die Sonne und gab genügend Licht zum Arbeiten – das Bild der Sonne und der konischen Türme aus den Halterungen und klemmte den Kopf von William Cherborg ein. Zwei Stunden lang beschäftigte er sich konzentriert und ausschließlich mit dem Hintergrund. Dann tränten seine Augen und er wurde schlagartig müde. Er schlief im Sessel ein.
     
    *
     
    Die Zeit der grünen Nebel war vorüber. Der warme Atem der Sonne fraß schmutzigbraune Löcher in die weiße Decke, unter der noch alles Leben begraben war. Vom Hang des Erntales führte ein Trampelpfad abwärts, ein vielbenutzter Weg. Abdrücke nackter Sohlen, in beide Richtungen weisend, verrieten es. Weit unten in dem großen Tal, dort, wo die Stämme der Weißbäume wuchsen, gabelte sich der Pfad, um sich in der Weite der Tundra zu verlieren.
    Von einigen Hügeln verdeckt, schob sich die steile Felswand in den Himmel. Die Wand bildete den Rand des Kessels, des Tales der Erns. Dort oben, im

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