TTB 100: Der Traum der Maschine
oder sehen. Ich bin überzeugt, daß man neben Ihrem Ohr Gewehre abfeuern oder unter Ihrer Nase faule Eier aufschlagen könnte, ohne daß Sie es merkten. Ich würde einen Schock vorschlagen!«
»Schock?« fragte Nicholas verständnislos.
»Sehen Sie, Sie leben mehr oder weniger in den starren Gleisen der Vernunft und des Willens, des Arbeitens und des Studierens. Alles, was darin neuartig ist, wird Sie verwirren. Stärker oder schwächer. Zwangsläufig. Hätten Sie ein anderes Erlebnis ersten Grades, dann würden Sie abgelenkt, oder Ihre Gedanken würden umgeleitet.«
»In welcher Größenordnung sollte sich dieses Erlebnis abspielen? Würde Raubmord genügen?« fragte Nicholas etwas ironisch.
»Völlig!« gab Dr. Roger ernsthaft zurück. »Im Ernst – es ist nicht das richtige Mittel, aber unzweifelhaft wirkungsvoll. Ich weiß, daß, wenn Sie jemanden umbrächten, die quälenden Gedanken Sie so sehr in Aufregung halten würden, daß Sie nicht ein einziges Mal mehr wissen würden, was Sie nachts geträumt haben.«
»Und andere Möglichkeiten?« wollte Nicholas wissen.
»Sie könnten sich zum Beispiel ernsthaft verlieben – die größte, einzige Liebe Ihres Lebens oder so fort. Sie könnten einen geliebten Elternteil verlieren, einen schrecklichen Brand mit ansehen oder ein Erdbeben. Sie könnten bei einer schwierigen Operation zusehen oder einen Verkehrsunfall miterleben. Alle diese Dinge wären geeignet, Ihre Gedanken wieder zu normalisieren.«
»Ich ziehe persönlich allerdings die erste der anderen Möglichkeiten vor«, sagte Nicholas und lächelte.
»Verständlich«, sagte Roger. »Beide Störungen würden sich überlagern und damit die Erregungsphase nivellieren. Das ist mein Rat. Abschließend versichere ich Ihnen zum dritten Mal, daß Sie nicht der Typ für diese Krankheit sind, daß Sie nicht krank sind und voraussichtlich niemals verrückt werden.«
»Sie ahnen nicht, wie sehr Sie mich beruhigt haben. Sollten die Träume wiederkommen – was dann?«
»Tun Sie, was Ihnen auch Grenelle geraten hat. Freuen Sie sich, daß Sie gute Bilder malen können, und überschätzen Sie die Angelegenheit nicht. Eines Tages werden Sie hart arbeiten müssen und die Malerei vergessen. Wie lange dauert es noch bei Ihnen?«
»Noch vier Semester«, sagte Nicholas. Er stand auf.
»Monsieur Roger«, sagte er, »ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Es ist beruhigend, von einem Fachmann bescheinigt zu bekommen, daß man normal ist. Was schulde ich Ihnen?«
»Dank und zwanzig Franc«, sagte Dr. Roger trocken. »Meine Helferin wird Ihnen die Rechnung vorlegen. Richten Sie bitte Claudine einen recht herzlichen Gruß aus.«
»Selbstverständlich. Als gesund entlassen?«
»Völlig, Monsieur Magat.«
Hinter Nicholas schloß sich die Tür. Nicholas zahlte und ging in den sinkenden Abend hinaus. Er kniff die Rechnung einige Male zusammen und steckte sie ein. Jetzt hatte er Lust auf zwei Tassen guten Kaffees. Er stieg am Place de la Nation in die Metro ein und verließ die Bahn wieder bei Censier-Daubenton. Fünf Minuten später saß er in der warmen Bar bei Michel, rauchte und hatte eine Tasse Espresso vor sich stehen. Es war nicht ganz acht Uhr abends.
»Müde, Nicholas?« fragte Michel.
Nicholas nickte und zahlte, nachdem er die zweite Tasse ausgetrunken hatte. Er beschloß, noch einmal den Häuserblock zu umlaufen, um frische Luft vor dem Schlafengehen zu schnappen. Langsam ging er entlang der gelben Lichter unzähliger Autos, die durch die Straßen fuhren, auf den kleinen Privatgarten zu, der an der Ecke Rue Muffetard und Rue Censier war. Dort setzte er sich auf eine Bank, streckte die Füße aus und zündete sich eine Zigarette an. Der Verkehrslärm wurde von den Büschen und Bäumen des verfallenden Gartens zurückgehalten, und Nicholas wurde müder und müder. Er schlug den Kragen der Lederjacke hoch und steckte die Hände in die Taschen.
Es wurde kühl und dunkel. Nicholas schlief ein, ohne daß er es spürte. Er träumte, aber er merkte es nicht.
Die Stunden vergingen lautlos. Die Nacht zerrann.
Nicholas fror, während er schlief.
*
Nigoel Imar richtete sich schlaftrunken auf und starrte auf den Schatten, der neben seinem Lager stand. Der Zeltwächter nahm die Hand von der Schulter des Ritters und sagte leise:
»Mich schickt der Herzog. Ihr sollt in sein Zelt kommen – es ist wichtig.«
»Jetzt?« fragte Nigoel heiser.
»Ja, jetzt!« bestätigte der Mann im Kettenhemd.
Nigoel Imar kroch zwischen
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