TTB 100: Der Traum der Maschine
bedroht, angegriffen oder beeinflußt. Alle diese Wahnideen können sich bis zu einer Unheimlichkeitsstimmung steigern, bis zur Weltuntergangsstimmung. Auch das ist bei Ihnen nicht einmal in spärlichsten Ansätzen gegeben.«
»Aber diese intensiven, unheimlichen Träume?«
»Mein junger Freund«, sagte Roger und blickte Nicholas scharf an. »Diese Träume sind nichts anderes als Träume. Sie sind intensiv, gut; das ist nicht ganz normal. Es wird wieder vergehen. Vermutlich machen Sie gerade eine Krise durch, ohne es zu ahnen. Sie äußert sich eben in dieser Form. Daß man nach dem Erwachen den Traum wiedergeben kann und abends nicht mehr, oder nur Bruchstücke, das ist ebenfalls nicht gerade neu.«
»Ich würde nichts sagen, wenn die Gegenstände, die ich analog des Traumes reproduziere, irdisch oder bekannt wären. So sind sie aber fremd, unbekannt ...«
»Ja. Sie sind hartnäckig. Gut – die Träume sind Botschaften des Unbewußten, die Sie künstlerisch verarbeiten. Sie wissen nichts von dem Umfang und dem Inhalt dieser ›Bibliothek‹, die Sie ständig mit sich herumtragen. Aber von Zeit zu Zeit, ausgelöst durch Reize, die Sie ebenfalls nicht bemerken, leiht sich das Großhirn eines dieser Bibliotheksbilderbücher aus und liest darin – das ergibt die Träume. Sie vergessen auch immer wieder, was Sie geträumt haben; ein weiteres Zeichen für diese normalen Vorgänge.«
»Aber, malen nicht auch die Schizophrenen gern?« fragte Nicholas.
»Natürlich, da haben Sie recht«, sagte der Psychologe. »Haben Sie schon einmal ein Bild, von einem Kranken gemalt, gesehen?«
»Nein«, sagte Nicholas.
»Warten Sie bitte einen Moment«, sagte Roger.
Er ging zu einem der Schränke, schob die Glastür zurück und holte ein dickes Buch heraus. Er blätterte etwas darin, dann legte er es aufgeschlagen vor Nicholas auf den Schreibtisch. Nicholas riß die Augen auf.
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
Roger schob ihm ein Blatt Maschinenpapier über den Tisch und legte den Bleistift darauf.
»Versuchen Sie einmal, das Bild von den fremdartigen Türmen wiederzugeben!« sagte er, auf das Papier deutend.
Binnen einer Minute hatte Nicholas das Bild in Schwarzweißtechnik reproduziert. Er legte es vor sich hin, neben die Abbildungen des wissenschaftlichen Werkes.
»Vergleichen Sie jetzt«, sagte der Arzt und schob die Brille in die Stirn. »Sehen Sie jetzt, wie ungerechtfertigt Ihre Besorgnisse sind?«
Nicholas nickte.
»Im allgemeinen gelten Schizophrene weit vor dem Ausbruch ihrer Krankheit als scheu, empfindlich und eigenbrötlerisch; bei Ihnen ist nichts davon festzustellen. Es besteht also keinerlei Gefahr, daß Sie sich eines Tages für Ramses oder Napoleon halten werden.«
»Das befürchte ich auch nicht«, begann Nicholas und drückte seine Zigarette aus. »Eher etwas anderes.«
»Und das wäre?« fragte Dr. Roger interessiert.
»Es dürfte eine milde Form von Verfolgungswahn sein. Ich bilde mir ein, daß ich und diese anderen Parallelfiguren Teile eines Ganzen sind, das niemand von uns kennt. Diese Suche nach einem Schlüsselpunkt oder einem Knotenpunkt – ist das nicht eine typische Wahnidee?«
Roger schüttelte energisch den Kopf.
»Das ist nichts anderes als eine Existenzidee, die mit der Krankheit nichts zu tun hat. Man kann zwar annehmen, daß innerhalb einer Persönlichkeit verschiedene Ebenen vorhanden sind – das würde die teilweise verblüffenden Verhaltensweisen von unheilbar Erkrankten erklären –, von denen bei Krankheit eine Ebene die normale Sozialschicht überlagert. Aber das hat nichts mit dieser Parallelwelttheorie Ihres bärtigen Freundes zu tun.«
»Meinen Sie?«
»Ich weiß es. Die neuesten Forschungen wollen beweisen, daß die Schizophrenie im Grund nichts anderes ist als eine toxische Störung im Stoffwechsel; also daß irgendein Giftstoff die Psyche zu jenen Fehlhaltungen veranlaßt. Noch irgendwelche Unklarheiten?«
»Sie halten mich also für gesund, für richtig normal?« fragte Nicholas und lehnte sich wieder zurück.
»Ich sagte es bereits anfangs. Sie sind so wenig verrückt wie jeder von uns. Das kann ich bestätigen.«
»Haben Sie einen Vorschlag, wie ich diese morgendlichen Bewußtseinsstörungen nach einem Traum abstellen könnte?«
»Es sind keine Bewußtseinsstörungen«, erwiderte der Psychologe. »Es ist eine ausschließliche Form der Konzentration, die weit über das normale Maß hinausgeht. Sie wird so weit getrieben, daß Sie nichts mehr hören
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