TTB 100: Der Traum der Maschine
noch:
»Träumen Sie nicht!«
»Du hast gut reden«, murmelte Nicholas und ging die Treppen hinunter.
Er kam heim, als es bereits hell war. Er legte sich ins Bett, drehte die Leselampe herum und vertiefte sich in die Erlebnisse Grenelles.
Träume – Fetzen unwirklicher Bilder, bizarr und unbegreiflich.
Nicholas blätterte in einer fremden Welt. Er versetzte sich in exotische Umgebungen und las, was das Unbewußte eines vierzigjährigen Mannes in den Nächten an die Oberfläche spülte. Wie die Brandung, die den Strand mit bunten Muscheln säumte. Nicholas las voller Erregung, bis ihm die Augen zufielen.
Irgend eine Glocke schlug schwach und hoch. Es war neun Uhr vormittags. Nicholas schlief.
*
Montag, später Nachmittag.
Alles war so, wie Nicholas es sich vorgestellt hatte. Rue Alexandre Dumas 17 war ein altes, ehrwürdiges Haus mit einem gepflegten Vorgarten. Zwischen den Büschen lag ein Gartenschlauch wie eine vertrocknete Schlange. An der steinernen Umfassungsmauer war ein Marmorschild mit Bronzelettern. Dr. Dr. Poul Roger. Nicholas ging durch das Tor bis an die dunkle, geschnitzte Holztür und läutete kurz. Voller unerklärlicher Spannung wartete er etwa eine Minute, dann klickte der elektrische Türöffner.
Eine ältere, unaufdringlich zurechtgemachte Frau hielt ihm die Tür auf. Sie sah ihn ruhig an und fragte:
»Sind Sie Herr Magat?«
Nicholas verbeugte sich etwas. »Fräulein Truffault hat mich angemeldet, denke ich?«
»Sicher. Der Doktor wartet schon auf Sie. Gehen Sie bitte dort hinein!«
Nicholas durchquerte einen fast leeren Vorraum und öffnete die Tür des Wartezimmers. Der Kalender einer Verlagsgesellschaft hing an der rechten Wand und zeigte das Datum: 10. August 1964. An der gegenüberliegenden Wand hingen über einer lederbezogenen Sitzgruppe die Sonnenblumen von Van Gogh. Nicholas klopfte an den Rahmen der gepolsterten Tür direkt vor ihm. Eine tiefe Stimme sagte:
»Herein!«
Nicholas drückte die Tür hinter seinem Rücken zu und blieb stehen. Er war im Arbeitszimmer von Doktor Roger. Der Arzt stand hinter seinem mächtigen Schreibtisch und streckte die Hand aus. Nicholas trat näher und schüttelte die ihm dargebotene Hand.
»Claudine Truffault rief mich an und sagte, daß Sie heute kommen würden. Sie bat mich, Sie anzuhören. Sie sind doch Monsieur Magat?«
»Ja«, sagte Nicholas einfach. Er hatte etwas anderes erwartet. Statt seiner undeutlichen Vermutungen hatte er ein helles Zimmer gefunden, mit stoffbezogenen Sesseln und einer modernen Liege, hellen Bildern und einem blauen Teppich von Wand zu Wand.
Der Arzt selbst war ein mächtiger Mann um die Mitte der Fünfzig, mit einer randlosen Brille vor hellblauen Augen und mit weißem Haar. Der Mann strahlte die Ruhe eines erfüllten Lebens und großer persönlicher Klugheit aus.
»Setzen Sie sich bitte hier hinein«, sagte Roger und deutete auf den großen Sessel gegenüber dem Schreibtisch. Nicholas setzte sich bequem hin und schlug die Beine übereinander. Der Arzt schob ein schwarzes Metallkästchen über die hellgemaserte Tischplatte.
»Rauchen Sie?«
»Schon allein aus Nervosität«, sagte Nicholas und lächelte matt.
»Haben Sie Gründe dafür?« fragte Roger.
»Ich hoffe es nicht, glaube es aber. Deswegen bin ich hier!«
Der Arzt nahm selbst eine Zigarette und schob dann das Tischfeuerzeug in Nicholas Nähe. Einige Sekunden lang schwiegen beide Männer und sahen sich an, dann eröffnete Roger das Gespräch.
»Claudine sagte nicht viel«, meinte er und nahm die Brille ab. »Sie machen sich unnötige Sorgen, meinte sie. Sie fragen sich, ob Sie noch normal wären. Stimmt das?«
»So ähnlich. Ich weiß es selbst nicht genau.«
Roger setzte die Brille wieder auf und lehnte sich auf den Unterarmen vor.
»Wir tun jetzt folgendes«, sagte er ruhig und gelassen, »wir versuchen, uns zu entspannen. Strecken Sie die Füße aus, machen Sie sich's bequem, legen Sie die Hände ruhig auf die Lehnen und fangen Sie an, zu erzählen.
Sprechen Sie überlegt, nicht zu hastig, versuchen Sie, nicht die geringste Kleinigkeit zu vergessen oder bewußt zu unterschlagen. Alles kann wichtig sein. Wann zweifelten Sie zum erstenmal an Ihrem gesunden Verstand?«
»Das war so«, sagte Nicholas. »Es geschah eigentlich aus heiterem Himmel ... Claudine und ich saßen eines Abends, etwa vor zehn Tagen, in einem kleinen Kellerlokal, der Caverne. Dort kamen wir mit einem bärtigen Mann ins Gespräch ...«
Nicholas
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