TTB 106: Der dritte Planet
der Stimmung, deine Vorlesungen mit anzuhören. Spare sie dir für die armen Idioten, die Collegegelder dafür zahlen.«
Morton sah ihn kopfschüttelnd an.
»Ich wünschte, ich könnte dich überzeugen«, sagte er.
»Vergiß es.«
»Es vergessen?« Morton rutschte unruhig hin und her. »Siehst du nicht ein, daß du durch dein Temperament in Gefahr bist?«
»Ich sage dir, John ...«
»Was glaubst du, wohin dieses Temperament dich führt? Glaubst du, es verschwindet eines Tages von selbst? Nein – das tut es nicht! Es zieht in deine Zimmer, in deine Möbel und in die Luft um dich herum. Es steckt auch Sally an. Es verdirbt alles und macht es krank – dich eingeschlossen. Es verbindet die tote Materie mit dem Belebten. Psychobolie. Sieh mich nicht so mürrisch an wie ein Kind, das das Wort Spinat nicht hören kann! Setz dich, um Himmels willen! Du bist ein erwachsener Mensch – benimm dich auch so!«
Chris steckte sich eine Zigarette an. Er verschloß seine Ohren gegen Mortons Worte, so daß er sie nur noch als unverständliches Summen hörte. Er blickte nach der Wanduhr. Dreiviertelzwölf. Wenn der Zug pünktlich war, mußte sie in zwei Minuten abfahren, und die Häuser der Stadt Fort würden an ihr vorbeiziehen.
»Ich habe es dir hundertmal erklärt«, sagte Morton jetzt. »Kein Mensch weiß, woraus Materie besteht. Atome, Elektronen, reine Energie – alles Worte! Wer weiß, wo das enden soll? Wir raten, wir theoretisieren, wir suchen nach Maßstäben. Aber wir wissen nichts.
Das bezog sich auf die Materie. Nun denke an das menschliche Gehirn und seine immer noch unbekannten Möglichkeiten. Es ist ein völlig unerforschtes Gebiet, Chris, und wird es noch lange bleiben. Und immer wird es unbekannte Mächte geben, die uns beeinflussen und vielleicht auch die Materie beeinflussen. Wir können sie nur nicht feststellen oder messen.
Und ich sage dir, du vergiftest dein Haus. Dein Temperament hat sich dem Gebäude und jedem Gegenstand, den du berührst, mitgeteilt. Alles ist von dir und deinen Wutanfällen beeinflußt worden. Und ich glaube auch, daß du nur durch Sallys Gegenwart, die als ablenkender Faktor wirkt, bisher davor bewahrt geblieben bist ...«
Chris hörte die letzten paar Sätze.
»Oh, hör mit diesem Geschwätz auf!« fuhr er ihn ärgerlich an.
Morton seufzte, fuhr mit einem Finger über den Rand seiner Untertasse und schüttelte traurig den Kopf.
»Gut«, sagte er. »Alles, was ich tun kann, ist hoffen, daß nichts passiert. Mir wird klar, daß du unter keinen Umständen auf mich hören willst.«
»Meine Glückwünsche zu der einzigen Feststellung, in der ich mit dir übereinstimme«, sagte Chris. Er sah nach seiner Uhr. »Und wenn du mich jetzt entschuldigen willst, werde ich gehen und einem Haufen von Kretins zuhören, die über Sätze stolpern, die zu begreifen sie sowieso nicht in der Lage sind.«
Sie standen auf.
»Ich übernehme das«, sagte Morton, doch Chris legte ein Geldstück für seinen Kaffee auf die Theke und ging hinaus. Morton folgte ihm und steckte dabei das Wechselgeld in die Tasche.
Auf der Straße tätschelte er Chris' Schulter.
»Versuche, dich nicht aufzuregen«, sagte er. »Wie wäre es, wenn du mit Sally heute abend zu uns kämest? Wir könnten ein paar Runden Bridge spielen.«
»Das ist unmöglich«, sagte Chris.
*
Die Studenten lasen eine Auswahl aus King Lear. Ihre Köpfe waren über die Bücher gebeugt. Er starrte sie an, ohne sie zu sehen.
Ich muß verzichten lernen, sagte er zu sich selbst. Ich muß sie vergessen – das ist alles. Sie ist fort. Ich werde diese Tatsache nicht beweinen. Ich werde nicht gegen jede Möglichkeit hoffen, daß sie zurückkommt. Ich will sie gar nicht zurückhaben. Ich komme viel besser ohne sie aus. Frei und unbehindert!
Seine Gedanken verließen ihn. Er kam sich ausgehöhlt und hilflos vor. Als ob er nie im Leben wieder ein Wort würde schreiben können.
Er riß sich mit Gewalt zusammen. Nein! schrie es in ihm. Ich bin stark. Das Gefühl, nichts zu können, ist nur vorübergehend. In kurzer Zeit werde ich lernen, mir mein Leben ohne sie einzurichten. Und dann werde ich arbeiten. Solche Arbeit, wie ich sie bisher nur erträumt habe. Habe ich seit meiner Heirat nicht achtzehn Jahre gelebt? Haben diese Jahre mich nicht bis zum Überlaufen mit Einsichten und Tönen, Ideen, Eindrücken und Auffassungen erfüllt?
Er zitterte vor Erregung.
Irgend jemand wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. Er zog die Augen zusammen
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