TTB 117: Lichter des Grauens
und prallte gegen den Plastikrahmen der Liege. Im Fallen riß der Mann das Tuch mit sich; das Geschirr prasselte hinterher und rollte auf dem glatten Bodenbelag herum. Anjanet sprang auf und schrie:
»Du Idiot – was fällt dir ein?«
Noguera lachte und stand auf. Er rieb die schmerzende Hüfte und kam auf die Frau zu. Anjanet wich zurück, tastete mit der Hand hinter sich und faßte den Türrahmen. Mit einem Sprung war die Frau draußen im Sand. Dicht neben ihr zischte die ssfaira , entfaltete ihren Schwanz und peitschte damit die Luft. Anjanet schnippte mit den Fingern; das Tier rollte sich hinweg; ein klares, helles Pfeifen ausstoßend. Die Rollspur zeichnete sich im Sand ab. Anjanet lief zehn Meter von den beiden weg, wischte das Gesicht mit dem Hemdärmel ab und überlegte. Was war geschehen?
Sie verstand die Reaktionen des Mannes nicht. Zuerst Verwirrung, dann plötzliches Begreifen – nachts – und dann die Handlung, die das Fehlen jeglicher Überlegung zeigte. Noguera kam aus dem Eingang. Er hatte die Frau gesehen und lief auf sie zu. Anjanet wandte sich nach links, dann in die andere Richtung. Dann begann sie zu rennen. Eine Stimme sagte ihr, daß Noguera jetzt gefährlich war. Was sie nicht wußte: Noguera war gestraft worden und flüchtete zur Nannie, um sich trösten zu lassen. Er rannte hinter Anjanet her, die in panischer Flucht zu entkommen versuchte.
Binnen zweihundert Metern hatte Noguera sie eingeholt. Er griff nach ihrem Arm. Sie ballte die Fäuste.
»Du Scheusal …«, rief sie und wand sich unter dem schmerzhaften Griff der harten Finger, »… warum hast du mir Saft ins Gesicht geschüttet?«
»Das Spiel macht Spaß!« sagte Noguera lächelnd und mit Nachdruck.
Ängstlich fragte sie:
»Und was ist jetzt?« Sie wußte, daß seine Kräfte ausreichten, sie zu töten. Sie fürchtete sich und begann zu zittern.
»Zuerst Strafe, jetzt trösten … Nannie!« antwortete Noguera.
Ihr graute vor der Konsequenz dieser Worte. Anjanet suchte eine Ausrede, einen Ausweg, und sie fragte wieder:
»Wie soll ich dich trösten, Noguera?«
»Nannie weiß, wie das ist, trösten«, erwiderte er weinerlich. Dann ließ er ihren Arm los, legte seine Arme um sie und fiel hinunter in den Sand. Der Mann umklammerte ihre Knie und schluchzte; sein Körper zuckte unregelmäßig. Anjanet fühlte, daß sie eben von der Hand des Todes gestreift worden war und begann in einer gleichgültigen Bewegung das Haar des Piloten zu streicheln. Es dauerte zwanzig Minuten. Während dieser Zeit lag Noguera zu ihren Füßen und schluchzte wie ein störrisches Kind, das geschlagen worden war. Und es war, als schöbe sich millimeterweise die Tür auf, die hinter sich alle Erklärungen verbarg. Dieser Mann war in einigen Bezirken seines Lebens wie ein Kind, das sich auf dem Weg des Erwachsenseins befand. Seine Handlungen bestanden zu acht Zehnteln aus denen eines unfertigen Kindes, der Rest war ein Mann. Nur – wo war der Mann, wo das Kind? Anjanet ahnte, daß sie niemals die Reaktionen vorhersehen konnte. Alles war möglich; es war möglich, daß sie ihn mit der ssfaira erschlug oder er sie erwürgte.
Die Tür schob sich wieder vor die Einsicht.
In diesen zwanzig Tagen wurde Anjanet an den äußersten Rand ihrer Beherrschung getrieben. Und was schlimmer wog – sie verlor nahezu ihre Selbstachtung. Das Gefühl des Selbstwertes, das die armseligste Kreatur des Kosmos kannte, verschwand für Anjanet. Es war grauenhaft. In den Wochen nachher konnte sie vieles vergessen, drei Szenen jedoch nicht. Sie hatten sich fest in ihr Bewußtsein eingegraben.
*
Es geschah in der zweiten Nacht. Psychologen nannten dies »Grenzsituation«. Anjanet befand sich in einem tiefen Zwiespalt. Einesteils wollte sie möglichst viel Abstand zwischen sich und Noguera bringen, andererseits sehnte sie sich mit allen Fasern nach seinem kraftvollen Körper.
So kam es dazu, daß die Frau sich in ihrem Schlafsack rund zweihundert Meter entfernt von den beiden Wagen am Ufer des Flusses unter eine Blauolive legte. Sie sah, wie Noguera die Beleuchtung des Wohnwagens abschaltete.
Plötzlich war Ruhe. Die bleiche Scheibe des Mondes schob sich höher, und irgendwo pfiff eine ssfaira laut und durchdringend. Anjanet fühlte, wie auch bei ihr die Ruhe wiederkehrte.
»Mein Gott«, sagte sie leise zu sich selbst, »warum kommt nicht zufällig jemand hierher? Warum kommt stets dann, wenn man wartet, niemand und nichts?«
Nie kam jemand, wenn er gebraucht
Weitere Kostenlose Bücher