TTB 117: Lichter des Grauens
fürchtete vor der lichterlosen, geräuschlosen Dunkelheit, die so ganz anders war als die Dunkelheit, die er kannte und liebte. Er begann zu frieren und merkte nicht, daß die Decke von seinem Körper gerutscht war.
»Nannie?«
Sprachlich nicht faßbare Begriffe setzten sich zusammen und formierten sich zu einer sich windenden Schlange. Das gepeinigte Hirn Nogueras las die Begriffe ab und nahm den Impuls an. Etwas wurde von ihm verlangt – als Lohn würde die Einsamkeit, würden die Schmerzen im Kopf und das fremde Gefühl des Körpers verschwinden.
»Nannie?«
Weiß wie die Nannie, die dich heute gefüttert und deren Finger du gehalten hast.
»Es rennt der Wolf …«
Mit der Stimme der weißen, warmen, guten Nannie von damals …
Noguera stand auf. Er merkte nicht, daß sein Körper sich vor Kälte schüttelte, die nicht von außen kam. Dann jagte ein Schauer aus glühender Hitze durch seinen Körper; Kehle und Hals wurden trocken. Die Halsschlagader begann zu pochen; wild und fordernd. Begehrend.
»Nannie!« schluchzte er. Ein atavistischer Impuls, zutiefst verankert im Unterbewußten, Erbteil aus unbekannter Vorzeit, brach sich Bahn. Ein Schwachsinniger machte sich auf, um Mann zu werden. Plötzlich riß ein Faden im Hirn. Ein jäher Schmerz machte Noguera besinnungslos, warf ihn um. Der braune, sehnige Körper rollte unter den Tisch und blieb liegen. Als sich nach kurzer Zeit der purpurne Nebel lichtete – der Druck auf die Augennerven wieder nachließ –, kroch Noguera zur Tür.
»Es reißt die Fessel … es rennt der Wolf.«
Weiß wie diese Nannie.
Dort gab es Ruhe. Wie ein braunes Tier kroch Noguera über den metallenen Boden, überschlug sich, als er über die Stufen fiel und tappte über den warmen Sand. Punkte standen über ihm und begannen wieder im Hirn zu zerren. Der große Wolf trottete weiter. Er umkreiste weinend den Wohnwagen, zwängte sich unter dem Steg hindurch und schürfte sich den Rücken wund. Dann kroch er an den Stützen entlang und erreichte das Insektennetz. Ein wilder Ruck fegte es hinaus in die Wüste. Dann fiel der Wolf neben den Umrissen der Nannie auf den Schaumgummi. Als Anjanet aufwachte und mit einem erstickten Schrei den Kopf drehte, sah sie direkt in die blinden Augen des Mannes. Silberne Tropfen rannen über die Haut.
»Nannie!« keuchte er. Die Frau wollte aufspringen, wegrennen und schreien – alles gleichzeitig. Sie konnte sich nicht rühren; sie war gelähmt. Angst kroch in ihr hoch.
»Nannie!«
Hände griffen nach dem Stoff des Schlafsacks und zerrissen ihn wie Papier. Ein trockene Hand berührte Anjanets Gesicht, fuhr die Konturen nach und verweilte auf der Schulter.
»Weich … weiß … Nannie!« keuchte der Mann.
Die Frau lag da wie eine Steinfigur. Sie konnte sich nicht rühren, selbst wenn sie gewollt hätte. Der gleiche Trieb, der Noguera bis hierher getrieben hatte, griff auf sie über und nahm von ihr Besitz. Ein heiseres Stöhnen kam aus ihrer Kehle. Noguera wurde ruhiger, sein aufgeregter Atem flacher. Er suchte noch immer nach der Nannie seiner Kindheit, suchte Schutz und Wärme. Das Hämmern in seinem Schädel übertönte jedes Geräusch und zertrümmerte jeden Gedanken. Endlich fand Noguera, was er suchte.
Er fand Wärme und Geborgenheit; Arme streichelten ihm die unendliche Einsamkeit fort. Es schienen die warmen Arme der Robot-Nannie zu sein, die sich in sanfter Beharrlichkeit um ihn legten und ihn festhielten. Noguera vergaß den Schmerz und die Leere.
»Nannie!« sagte er langsam und akzentuierte jeden Buchstaben.
Schweigen … Der fahle Mond über der Wüste schien zu bersten. Die Natur richtet nach ihren eigenen Gesetzen, die absolut sind und älter als jedes andere Recht. Schlaf bemächtigte sich des Mannes und der Frau. Sie hatten sich gefunden, obwohl sie sich nicht gesucht hatten.
Die Nacht verstrich schnell. Lichtbalken flirrten zwischen den knorrigen Stämmen der Blauoliven hinunter auf den Wasserspiegel. Sie brachen sich in Reflexen und überschütteten die beiden Wagen. Als Anjanet erwachte, sah sie den Mann und begann zu schreien.
Und als er wach wurde, lächelte er.
»Mein Gott!« flüsterte Anjanet tonlos, »wie konnte das geschehen?«
Er gab keine Antwort; das Lächeln blieb.
*
»Was sagte dein Vater, Gaspard?« fragte Anjanet.
»Der Imperiumsbote wird von den Farmern der Gegend erst in zwei Monaten erwartet. Wir haben keinen Sender auf der Farm.«
Anjanet nickte stumm. »Weiß jemand einen Weg?«
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